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Zelte stehen in Rafah.

© AFP/SAID KHATIB

Israels mögliche Bodenoffensive in Rafah: UN-Nothilfekoordinator warnt vor „Gemetzel“ – die Sorge ist international groß

Israels Ministerpräsident Netanjahu will eine Bodenoffensive in Rafah starten und die Stadt evakuieren lassen. Hilfsorganisationen halten eine Evakuierung für nicht möglich.

Israels geplante Militäroffensive auf Rafah im Süden des Gazastreifens könnte nach Ansicht von UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths zu einem Gemetzel führen. „Ich befürchte ein Gemetzel von Menschen in Gaza“, schrieb Griffiths in der Nacht zu Donnerstag auf der Plattform X (vormals Twitter).

In einer ungewöhnlich scharf formulierten Erklärung hatte er zuvor deutlich gemacht, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Gazasstreifens in Rafah „zusammengepfercht“ sei und „dem Tod ins Auge“ blicke. Die weit mehr als eine Million Menschen dort hätten „wenig zu essen, kaum Zugang zu medizinischer Versorgung, können nirgendwo schlafen und nirgendwo sicher hingehen“, sagte Griffiths. „Sie sind, wie die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens, Opfer eines Angriffs, der in seiner Intensität, Brutalität und Tragweite beispiellos ist“, sagte er.

Die internationale Gemeinschaft habe vor den gefährlichen Folgen einer Bodeninvasion in Rafah gewarnt, sagte Griffith und fügte hinzu: „Die israelische Regierung kann diese Aufrufe nicht länger ignorieren“. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte dem Militär vergangene Woche den Befehl erteilt, seiner Regierung Pläne für eine Offensive auf Rafah sowie für die Evakuierung der dortigen Bevölkerung vorzulegen. Es gehe darum, dort die letzten Kampfeinheiten der islamistischen Hamas zu zerschlagen, sagte Netanjahu.

Die Ankündigung sorgt international für heftige Kritik. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte am Mittwoch bei einem erneuten Besuch in Israel, eine Offensive in Rafah wäre „eine humanitäre Katastrophe mit Ansage“. Die Menschen benötigten „sichere Orte und sichere Korridore, um nicht noch weiter ins Kreuzfeuer zu geraten“, sagte Baerbock.

Kanada, Australien und Neuseeland in großer Sorge

Auch die Regierungen von Kanada, Australien und Neuseeland äußerten große Sorge über eine mögliche Bodenoffensive in Rafah und forderten Israel zu einer Abkehr von einem solchen Plan auf. „Eine Militäroperation hinein nach Rafah wäre katastrophal. Angesichts der bereits entsetzlichen humanitären Situation im Gazastreifen wären die Auswirkungen (...) auf palästinensische Zivilisten verheerend“, hieß es in einer am Mittwoch (Ortszeit Ottawa) veröffentlichten gemeinsamen Stellungnahme der drei Länder.

Es gäbe für Zivilisten in der Stadt im Süden des Gazastreifens an der Grenze zu Ägypten schlicht keinen anderen Ort, an den sie gehen könnten. Israel müsse „seinen Freunden“ und der internationalen Gemeinschaft Gehör schenken, appellierten die drei Staaten an Israel. Ein internationaler Konsens gegen eine solche Offensive wachse. „Palästinensische Zivilisten können nicht dazu gebracht werden, den Preis eines Sieges über die Hamas zu zahlen.“

Australien, Kanada und Neuseeland forderten eine sofortige - beidseitige - humanitäre Feuerpause. Humanitäre Hilfe müsse schnell, sicher und ungehindert die Zivilisten in Gaza erreichen. Gleichsam müsse die Hamas umgehend die Waffen niederlegen und alle Geiseln freilassen, hieß es in der Erklärung.

UNRWA-Chef sieht keine Evakuierungsmöglichkeit

Der Chef des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA sieht indes keine Möglichkeit, Menschen aus der Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens wie von Israel gefordert zu evakuieren. „Evakuierung wohin? Es gibt keinen sicheren Ort in Gaza“, sagte Philippe Lazzarini der „Neuen Zürcher Zeitung“ (Donnerstag). Der Norden sei mit nicht explodierten Sprengkörpern übersät. Man könne die Bevölkerung nicht dorthin bringen. Dort herrsche akute Unterernährung, eine Hungersnot drohe. „Es gibt keinen Ort, an den man evakuieren kann.“

Evakuierung wohin? Es gibt keinen sicheren Ort in Gaza.

Philippe Lazzarini, Chef des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA  

Israels Regierung hat die in der Region tätigen UN-Organisationen aufgefordert, bei der Evakuierung von Zivilisten aus Rafah zu helfen. Die Streitkräfte sehen Rafah als letzte Bastion der islamistischen Hamas, die sie im Zuges des Gaza-Krieges zerstören wollen. In der Stadt mit einst 300.000 Einwohnern kampieren nach UN-Angaben inzwischen mehr als 1,4 Millionen Menschen, die vor israelischen Angriffen in anderen Teilen des Gazastreifens geflohen sind. Israel hatte die Errichtung ausgedehnter Zeltstädte für die zu evakuierende Bevölkerung weiter nördlich von Rafah vorgeschlagen.

Lazzarini sagte, die Bevölkerung sei bereits mehrfach innerhalb des Küstengebiets geflohen. Mehr als 100.000 Menschen seien entweder getötet oder verletzt worden oder würden vermisst. Im Gazastreifen seien in nur vier Monaten fast 18.000 Kinder zu Waisen geworden.

Das Palästinenser-Hilfswerk war massiv in die Kritik geraten: Zwölf UNRWA-Mitarbeitern sollen am Massaker der Hamas an Israelis am 7. Oktober beteiligt gewesen sein.

Cadus: Lage für Menschen in Rafah ausweglos

Die deutsche Hilfsorganisation Cadus, die derzeit in Rafah im Einsatz ist, warnte ebenfalls vor einer ausweglosen Lage für die Menschen. „Diejenigen, die fliehen wollen, können es einfach nicht“, sagte der Chef der deutschen Hilfsorganisation, Sebastian Jünemann, der Nachrichtenagentur AFP in einem Telefoninterview von Rafah aus. Seit Anfang Februar leistet der erfahrene Notfallsanitäter mit seinem Berliner Team im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) medizinische Nothilfe im Gazastreifen.

Es gebe in dem dicht besiedelten Palästinensergebiet „keine Fronten, wie man das normalerweise kennt“, sagte Jünemann. Vielmehr werde der Krieg zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas „auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen“. „Die Hamas benutzt die Bevölkerung als menschliche Schutzschilde, für die israelische Armee gehören Opfer unter Zivilisten zum Kollateralschaden.

Die Hamas benutzt die Bevölkerung als menschliche Schutzschilde, für die israelische Armee gehören Opfer unter Zivilisten zum Kollateralschaden.

Sebastian Jünemann, Chef der deutschen Hilfsorganisation Cadus

Der Notfallsanitäter Jünemann ist mit zwischen fünf und acht Cadus-Mitarbeitern in Rafah stationiert, sie leisten Hilfe in einem Krankenhaus zwischen Rafah und der weiter nördlich gelegenen Stadt Chan Junis. Es ist die einzige deutsche Hilfsorganisation, die derzeit vor Ort ist. Der Einsatz erfolgt in Zusammenarbeit mit den UN-Organisationen WHO und Ocha und in Absprache mit der israelischen Behörde Cogat und ägyptischen Behörden.

Vom Kampfgeschehen selbst sei das Cadus-Team zwar weit entfernt. „Wenn aber nahe einem Krankenhaus, das möglicherweise Verbindungen zur Hamas hat, eine Rakete einschlägt, dann halten sich dort auch viele unbeteiligte Zivilisten auf“, sagte Jünemann. Hinzu komme, „dass in die Wohngebiete gefeuert wird, weil sich dort die Kriegsziele verstecken“.

„Dass die Hamas aus Wohngebieten heraus agiert, dass die Tunnel existieren, ist bekannt“, sagte Jünemann. „Das abzustreiten, wäre absoluter Quatsch.“ Die Frage sei, wie damit umgegangen werde und inwiefern die Kriegshandlungen angemessen seien. „Denn die Zivilbevölkerung kann nirgendwo anders hin. Teile der Bevölkerung, die noch immer die Hamas unterstützen, lassen sich zum Schutzschild machen und der Rest wird zum Schutzschild gemacht.

Israelische Pläne zur Evakuierung von Zivilisten in Rafah im Vorfeld einer Bodenoffensive zur Bekämpfung der Hamas sieht Jünemann ebenfalls skeptisch. „Ich habe keine Ahnung, wie sich das vorgestellt wird. Die Menschen leben jetzt schon in Zeltstädten. Es gibt hier einfach keinen Platz. Die Menschen sind einfach fertig.“ Schon jetzt seien in Rafah überall Notunterkünfte, Zelte und Planen aufgestellt. „In den Krankenhäusern schlafen die Menschen auf den Fluren.“

Auch die Errichtung von Zeltstädten hält der Notfallsanitäter angesichts fehlender sanitärer Einrichtung und der Möglichkeit, die Ausbreitung von Krankheiten einzudämmen, für problematisch. (dpa, AFP, Reuters)

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