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Rekrutierungsanzeige für die Armee mit der Aufschrift „Wer, wenn nicht wir“.

© dpa/DMITRI LOVETSKY

Beginn der zweiten Mobilisierung?: Putin greift gegen Kriegsdienstverweigerer durch

Eine Gesetzesnovelle in Russland ermöglicht es dem Staat, Vorladungen zum Militär auch elektronisch zu verschicken. Das macht es schwieriger, sich ihnen zu entziehen. Verweigerern drohen Strafen.

In Russland spricht man von einem „neuen Wehrpflichtsystem“, das mithilfe eines neuen Gesetzes geschaffen wurde: Die russische Staatsduma hat am Dienstag bei einer „Blitzabstimmung“ eine Novelle des Einberufungsgesetzes verabschiedet, die es dem russischen Staat ermöglicht, seinen Bürgern elektronische Einberufungsbescheide zu schicken. Gleichzeitig soll nun als Gesetzesverstoß gewertet werden, wenn Einberufene die Vorladung ignorieren.

Das neue Gesetz führt in Russland erneut zu Spekulationen über eine zweite Mobilisierungswelle. Schon die Teilmobilisierung im Herbst 2022 hat die russische Gesellschaft traumatisiert, Klagen und Beschwerden russischer Mobilisierter von der Front in der Ukraine verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken. Die Rekruten beklagen, ohne Ausbildung und ordentliche Ausrüstung von ihren Militärgenerälen ins offene Messer geschickt zu werden.

Der ukrainischen Regierung zufolge sollen mittlerweile über 180.000 russische Soldaten gefallen sein, unabhängig verifizieren lassen sich die Angaben nicht, sie decken sich jedoch grob mit Schätzungen britischer Verteidigungsbeamter.

Zusammen mit den Hunderttausenden jungen Männern, die inzwischen vor einer Rekrutierung aus Russland geflohen sind, spürt die russische Gesellschaft die Kriegsfolgen mittlerweile: Laut Daten der staatlichen Statistikbehörde Rosstat zufolge ist die Zahl der Arbeitnehmer unter 35 Jahren im Jahr 2022 um etwa 1,3 Millionen zurückgegangen.

Ziel des Gesetzentwurfs ist es, die Bürgerinnen und Bürger noch wehrloser gegen die Willkür der Melde- und Einberufungsämter zu machen.

Anonymer Anwalt, spezialisiert auf Militärrecht, gegenüber „Meduza“

In der Zwischenzeit nehmen die Strafverfahren im Rahmen der Einberufung und Mobilisierung wöchentlich zu. Wie das kremlkritische Portal „MediaZona“ herausfand, befanden sich die Verfahren gegen Kriegsdienstverweigerer im März auf Rekordniveau. Bis zum 21. März hätten die Militärgerichte im ganzen Land bereits 536 solcher Fälle erhalten.

Die Gesetzesnovelle soll das Verweigern des Kriegsdienstes nun weiter erschweren. Ein auf Militärrecht spezialisierter russischer Anwalt sagte dem kremlkritischen Nachrichtenportal „Meduza“: „Ziel des Gesetzentwurfs ist es, die Bürgerinnen und Bürger noch wehrloser gegen die Willkür der Melde- und Einberufungsämter zu machen.“ Er solle die Einberufung zum Vertragsdienst sowie eine zweite Mobilisierungswelle vereinfachen.

Russische Soldaten in Bachmut.

© action press/Спринчак Валентин

Betroffen von dem Gesetz sind nämlich nicht nur Russen, die als wehrpflichtig gelten, sondern auch all jene Männer und Frauen, die als Reservisten mobilisiert werden können. „Die Mobilisierung in Russland ist nicht abgeschlossen, egal, was Beamte darüber behaupten. Jeden Moment kann ein Massenversand von Vorladungen beginnen“, schreibt „Meduza“.

Wer sich trotz einer Vorladung nicht beim Militärkommissariat meldet, muss mit einem Bußgeld von 500 bis 3000 Rubel (umgerechnet rund 33 Euro) rechnen, im Falle einer Strafverfolgung können für Wehrpflichtige – nicht jedoch Mobilisierte – bis zu zwei Jahre Gefängnis die Folge sein.

Wehrpflichtige müssen offiziellen Angaben zufolge zwar nicht an die Front in die Ukraine – und doch häuften sich zuletzt Berichte darüber, dass dies dennoch der Fall sei. Das bestätigte etwa auch der Menschenrechtsaktivist Alexej Tabalow gegenüber der Deutschen Welle: „Uns erreichen regelmäßig Berichte, dass Wehrpflichtige in die Grenzgebiete zur Ukraine zum Militärdienst geschickt werden.“ Spätestens wer seinen Wehrdienst jedoch abgeleistet hat, kann mit abgeschlossener Militärausbildung in die Armee und somit an die Front mobilisiert werden.

Vorgeladene, die innerhalb von 20 Tagen nach Zustellung nicht beim zuständigen Militärkommissariat erscheinen, drohen zudem Strafen, die die persönliche Freiheit stark einschränken: Kriegsdienstverweigerern soll es verboten werden, Auto zu fahren oder ein Auto anzumelden, sich als selbstständig zu melden, Kredite aufzunehmen und Immobilien zu kaufen oder zu verkaufen.

Doch die wohl härteste Sanktion: Wer vorgeladen wurde, soll von nun an das Land nicht mehr verlassen dürfen, bis er sich beim zuständigen Militärkommissariat gemeldet hat. Für das Ausreiseverbot ist kein Gerichtsbeschluss nötig, sondern es kann vom Militärkommissar erlassen werden.

Eine Vorladung gilt der Gesetzesnovelle zufolge als zugestellt, wenn sie in dem staatlichen Serviceportal „Gosuslugi“ auf dem persönlichen Account erscheint. Sein Profil auf dem Portal zu löschen, soll allerdings auch kein Ausweg sein, wie ein Militäranwalt „Meduza“ erklärt: Denn das Gesetz sieht auch ein zentrales Vorladungsregister vor, in dem ausgestellte Militärvorladungen verzeichnet werden sollen. Geführt werden soll es vom Ministerium für digitale Entwicklung.

Ab wann es tatsächlich an den Start geht, ist allerdings unklar. Damit die Gesetzesnovelle vollständig in Kraft tritt, muss es noch vom Präsidenten Wladimir Putin unterzeichnet werden.

Die „Gosuslugi“-Website

© dpa/---

Russische Anwälte haben Datenschutzbedenken

Besonders kritisch sehen Anwälte an dem kommenden Register den fehlenden Datenschutz. „Die Gesetze erlauben die Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten ohne die Zustimmung der betroffenen Person“, sagte Wladimir Ozherelyev, Leiter der „Kanzlei für geistiges Eigentum“.

Musterung eines Rekruten in Moskau.

© action press/Щербак Александр

Im Register gespeichert werden sollen neben militärrechtlich relevanten Informationen, wie dem Bearbeitungsstatus der Vorladung, Steuernummer, Versicherungsnummern, die Adresse – sowohl die Meldeadresse als auch davon abweichende tatsächliche Adressen. All diese Daten sollen von den Behörden in das Register eingetragen werden, etwa vom Innenministerium, das die tatsächliche Adresse melden darf, oder von Gerichten, Versicherungskassen, Universitäten oder dem Bundessteuerdienst.

Bürger können aber auch weiterhin per Post vorgeladen werden. Sollte eine Vorladung per Post verschickt werden, müsse sie vom Empfänger persönlich entgegengenommen und eine Bestätigung unterschrieben werden. „Aber sich vor dem Postboten verstecken geht leider nicht“, sagt der Militäranwalt. Denn sieben Tage nachdem eine Vorladung per Post verschickt wurde, gelte sie als zugestellt, wenn sie ins Vorladungsregister aufgenommen werde – egal, ob der Empfänger sie entgegengenommen habe oder nicht.

Und auch ein weiteres Instrument, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen, ist durch das Gesetz ausgehebelt worden: das Recht, Einspruch gegen die Vorladung zu erheben. Bisher war es möglich, noch am selben Tag selbst oder durch einen Bevollmächtigten, gegen die Einberufung Einspruch zu erheben.

Unabhängige russischsprachige Medien wie „Help Desk Media“ oder „Meduza“ weisen allerdings darauf hin, dass eine Militäreinladung nicht zwangsläufig das eigene Schicksal besiegelt: Weiterhin möglich sei es, sich etwa auf das Recht zu berufen, den Militärdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, wie „Help Desk Media“ auf Instagram schreibt.

Der sicherste Weg, dem Kriegsdienst zu entgehen, ist aber immer noch die Flucht aus Russland. „Das ist ein ziemlich zuverlässiger Weg, um nicht eingezogen zu werden. Jeder muss für sich entscheiden, ob er das Land verlässt oder nicht“, sagte ein Anwalt „Meduza“.

Generell bestehen unter russischen Juristen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Gesetzes. So sagte etwa der Anwalt Wladislaw Zhuk der Zeitung „Kommersant“, die Gesetzesnovelle stünde im Widerspruch zu mehreren anderen Gesetzen, wie dem der Ausreisefreiheit, dem Recht auf Privateigentum oder der Freiheit, seine Arbeit selbst zu wählen.

Die Anwältin Jewgenija Rizkowa hingegen sagte dem „Kommersant“, dass Mobilisierte bereits im Zuge der Teilmobilisierung im Herbst 2022 an der Ausreise aus Russland gehindert wurden, wenn sie auf bestimmten Listen des Grenzschutzes auftauchten.

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