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Christoph von Marschall, Agnieszka Łada-Konefał und Kai-Olaf Lange bei der Tagesspiegel-Podiumsdiskussion.

© Antonina Polukhina

20 Jahre EU-Erweiterung: „Polen wollte vom Spielfeld zum Spieler werden“

Neue Nähe, neues Reibungspotenzial: Wie hat die Osterweiterung Polen und Europa verändert, fragten sich Experten am Donnerstag bei einer Tagesspiegel-Podiumsdiskussion. Eine Bilanz.

Es war ein historischer Einschnitt. Am 1. Mai 2004 gelang die bisher größte Erweiterung der Europäischen Union. Neben Malta und Zypern traten acht weitere Staaten, Teile des ehemaligen Ostblocks, der EU bei: Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Ungarn und Polen – mit 38 Millionen Menschen das mit Abstand größte Beitrittsland.

20 Jahre Osterweiterung. Wie haben sich Polen und Europa in dieser Zeit verändert? Sind sich Deutsche und Polen wirklich nähergekommen? Was können die beiden Nachbarländer, die eine schwierige Geschichte verbindet, zur Stärkung der EU beitragen? Besonders jetzt, angesichts des Krieges in der Ukraine.

20 Jahre EU-Erweiterung: der Fall Polen

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, lud der Tagesspiegel in Kooperation mit der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit am Donnerstag zu einer Podiumsdiskussion „20 Jahre EU-Erweiterung: der Fall Polen“ ein.

Unser Handelsaustausch mit den vier Visegrád-Staaten: Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei, ist anderthalbmal so groß wie mit China.

Christoph von Marschall, Tagesspiegel-Korrespondent

Drei Expert:innen, die sprachlich und kulturell auf beiden Seiten der Grenze zu Hause sind: Agnieszka Łada-Konefał, stellvertretende Direktorin des Deutschen Polen-Instituts (DPI) in Darmstadt, Irene Hahn-Fuhr, Geschäftsführerin des Thinktanks Liberale Moderne (LibMod) in Berlin und Kai-Olaf Lang, Polen-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin lieferten dabei viele spannende Erkenntnisse.

Durch den Abend führte Christoph von Marschall, der diplomatische Korrespondent der Chefredaktion des Tagesspiegels und eröffnete die Diskussion direkt mit einem Fun Fact aus der Wirtschaft: Polen sei der fünftgrößte Handelspartner Deutschlands, vor Großbritannien und vor Italien. „Auch unser Austausch mit den vier Visegrád-Staaten: Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei ist anderthalbmal so groß wie mit China“, sagte von Marschall.

Polnische Wirtschaft? Von wegen!

Polnische Wirtschaft? Dieses plumpe Vorurteil ist längst überholt, betonte auch Kai-Olaf Lang. „Polen hat es vermocht, die EU-Mitgliedschaft und die Teilhabe am Binnenmarkt als Modernisierungsvehikel zu nutzen“, sagte der Experte. Das sei kein Automatismus. 

Unglaublich, wie viel weiter Polen bei der Digitalisierung ist als Deutschland.

Irene Hahn-Fuhr, Thinktank LibMod in Berlin

Seine Ansicht teilte auch Irene Hahn-Fuhr, die lange Jahre das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau leitete. Sie hob hervor, Polens EU-Beitritt sei ein Katalysator für Entwicklung gewesen. Beispiel: Digitalisierung. Ob Netzabdeckung, öffentliche Verwaltung oder Online-Beschulung: „Unglaublich, wie viel weiter Polen bei der Digitalisierung ist als Deutschland“, sagte Hahn-Fuhr.

Resiliente Demokratie, gespaltene Gesellschaft

Positiv beurteilten die Experten außerdem die demokratische Resilienz im Land, die sich bei den letzten Parlamentswahlen deutlich zeigte. Nichtsdestotrotz sei die polnische Gesellschaft nach acht Jahren der PiS-Regierung stark polarisiert.

Im Gespräch: Irene Hahn-Fuhr und Dietmar Nietan, Abgeordneter der SPD im Deutschen Bundestag.

© Antonina Polukhina

Ob die tiefe Spaltung des Landes unmittelbar durch die forcierte Modernisierung nach dem EU-Beitritt verursacht wurde, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Kai-Olaf Lange warnte davor, alles, was seit Mai 2004 in Polen passiert sei, in einen kausalen Zusammenhang mit der Mitgliedschaft zu stellen.

„Für viele in Polen ging die Entwicklung zu schnell“, sagte Agnieszka Łada-Konefał. Dennoch sei das Stadt-Land-Gefälle kein typisch polnisches Phänomen und auch in Deutschland oder Frankreich sichtbar, so die Expertin.

Der springende Streitpunkt, führte Irene Hahn-Fuhr an, sei vielmehr die Frage der nationalen Souveränität, die in Polen nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit dem Kommunismus einen anderen Stellenwert habe. „Wie und auf welcher Ebene geben wir unsere Souveränität innerhalb der EU auf, darüber wird in Polen gestritten“, so die Expertin.

Wie hat Polen die EU verändert?

Auch für Europa war die Osterweiterung ein Lernprozess. Mehr Staaten bedeuten mehr Reibungen – und im Idealfall mehr Dialogfähigkeit. Insofern stellte sich im Verlauf der Diskussion auch die Frage: Wie hat Polen nach dem Beitritt die Europäische Union verändert?

Laut Agnieszka Łada-Konefał brachte das Land in erster Linie eine besondere Expertise in der Russland-Frage mit. Mahnende Stimmen aus der Region blieben in Europa lange ungehört. Diese Zeiten sind jetzt vorbei. Überhaupt sei Polen inzwischen viel mutiger und selbstbewusster geworden. „Wir wollen kein Schüler mehr sein für die Lehren aus dem Westen“, sagt die Expertin.

Viele in Polen sind der Meinung: Wir boxen eigentlich unter unserer Gewichtsklasse.

Kai-Olaf Lang, Polen-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin

„Viele in der sogenannten alten Europäischen Union waren schnell überrascht, dass Polen vom Spielfeld zum Spieler werden wollte“, sagte Kai-Olaf Lang. Die Mitgliedschaft bedeutete schließlich auch ein Mitgestaltungsverprechen. Laut Lang konnte Polen vor allem in der Energie- und Sicherheitspolitik Akzente setzen. Die Energiesolidarität sei ursprünglich eine polnische Idee gewesen. Außerdem sei das Land ein Bannerträger eines gut funktionierenden Binnenmarktes. „Trotzdem sind viele in Polen der Meinung: Wir boxen eigentlich unter unserer Gewichtsklasse“, sagte der Experte.

Das ambivalente Verhältnis

Bei der Frage, welchen Einfluss die Erweiterung auf die deutsch-polnischen Beziehungen hatte, wurden viele Ambivalenzen und Asymmetrien diskutiert. „Deutschland hat sich einerseits gerne als Anwalt der Osterweiterung gesehen. Gleichzeitig waren wir aber hauptsächlich damit beschäftigt, Polen bis 2011 von der Arbeitnehmerfreizügigkeit fernzuhalten, um damit die volle Integration ein paar Schritte zu verzögern“, kritisierte Irene Hahn-Fuhr. Das habe in Polen eine Wirkung gehabt.

Deutsche wissen immer noch zu wenig über Polen.

Agnieszka Łada-Konefał, Vizedirektorin des Deutschen Polen-Instituts (DPI)

Asymmetrien seien aber auch in anderen Bereichen deutlich. Zum Beispiel gäbe es in Polen viele deutsche Institutionen, zahlreiche Germanistik-Lehrstühle und Thinktanks mit großen Deutschland-Abteilungen, so Hahn-Fuhr. Umgekehrt sei die Landschaft aber relativ dünn besiedelt. 

„Deutsche wissen immer noch zu wenig über Polen“, beklagte Agnieszka Łada-Konefał, die lange das Deutsch-Polnische Barometer betreute, ein Projekt, das die gegenseitige Wahrnehmung erhebt. Eine neue, überraschende Erkenntnis sei: Das Interesse an Deutschland lasse in Polen nach. „Das Bild von den Deutschen ist realistischer geworden“, sagte Łada-Konefał.

Kai-Olaf Lang interpretierte das als eine Form der Normalisierung und riet zu Gelassenheit. Die deutsch-polnischen Beziehungen seien eben auch eine Empörungsgemeinschaft.

„Wir haben durch die Mitgliedschaft in der EU eine neue Nähe, aber auch ein neues Reibungspotenzial, eine Art Kooperationsstress. In der internationalen Politik sind Konflikte normal. Es kommt darauf an, ob man eine Kultur der Aufbereitung hat“, sagte Lang. Das sei uns in den vergangenen Jahren abhandengekommen. „Jetzt haben wir eine neue Chance“, so der Polen-Experte. 

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