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HERZWOCHEN: Neustart mit 99

Früher hätte sich Annemarie Musswick mit ihrem Herzfehler abfinden müssen – weil den Ärzten bei hochbetagten Patienten das Operationsrisiko zu hoch war Doch die Technik hat große Fortschritte gemacht. Schonende Kathetereingriffe und neue Kreislaufpumpen verbessern die Lebensqualität im Alter

Annemarie Musswick lächelt entspannt. Es geht ihr gut, das sieht man. Die Gelassenheit eines langen Lebens spiegelt sich auf ihrem Gesicht. Die gebürtige Neuköllnerin ist 99 Jahre alt. Jetzt sitzt sie in der Bibliothek des Deutschen Herzzentrums (DHZ) und erzählt, dass ihr gesundheitlicher Zustand noch im vergangenen Jahr wenig Anlass zum Lächeln gab. „Ich musste alle 14 Tage ins Krankenhaus, weil ich keine Luft mehr bekam.“ Mit ihrem Problem war sie nicht allein, viele alte Menschen sind davon betroffen. Eine Herzklappe, die die Aorta von der linken Herzkammer trennt, funktionierte wegen Kalkablagerungen nicht mehr richtig. Das bedeutet, dass die Klappe das Blut nicht mehr am Zurückströmen in die linke Herzkammer hinderte. Annemarie Musswick hatte noch Glück, dass sie nur unter Atemnot litt. Andere Betroffene werden bewusstlos, was lebensbedrohlich ist. Normalerweise öffnet man in so einem Fall Brustkorb und Aorta und setzt eine neue Klappe aus tierischem oder menschlichem Gewebe oder aus Kunststoff ein – allerdings nicht bei Hochbetagten, die meist multimorbide sind, also mehrere Begleiterkrankungen haben. Wegen ihres hohen Alters will man sie den Risiken so einer Operation nicht mehr aussetzen.

Das ändert sich jetzt zunehmend. Die Lebenserwartung steigt, ältere Menschen bleiben länger körperlich und geistig fit. Wenn sie krank werden, wünschen sie sich weniger eine Lebensverlängerung um jeden Preis, als vielmehr eine Verbesserung der alltäglichen Lebensumstände. „Meines Erachtens haben auch Ältere ein Anrecht darauf, von den Ergebnissen der medizinischen Forschung zu profitieren“, sagte Roland Hetzer, Ärztlicher Direktor des DHZ, kürzlich bei der Vorstellung von Annemarie Musswick und sieben weiterer Patienten aus Berlin, alle über 70, die in den Genuss der neuen Technik gekommen sind. In den vergangenen Jahren, so Hetzer, habe die Entwicklung auf dem Gebiet der Herzerkrankungen große Fortschritte gemacht, das Spektrum der Patienten hat sich deshalb erweitert. Auch Schwerkranke, Voroperierte oder eben Hochbetagte kommen jetzt für eine Operation infrage. Denn der Eingriff ist schonender geworden. Bei Annemarie Musswick wurde nicht der Brustkorb geöffnet, sondern ein kleiner, rund 5 Zentimeter langer Schnitt an der linken Brustseite ausgeführt. Anschließend wurde ein Ballonkatheter mit der neuen Klappe bis ins schlagende Herz vorgeschoben. Der Katheter drückt die defekte Klappe in die Gefäßwand, wo sie bleibt, ohne zu stören. Auch die Gefahr einer Entzündung besteht nicht. Die neue Klappe ist im Katheter eingerollt. Sie entfaltet sich und setzt sich an der Gefäßinnenwand so dicht fest, dass sie fast mit ihr verwächst. Seit zwei Jahren werden diese Kathetereingriffe am DHZ vorgenommen. 340 Klappen wurden in dieser Zeit implantiert, was nach Angaben des Herzzentrums die größte Zahl in Deutschland sei. Die Sterblichkeit habe dabei nur bei vier Prozent gelegen.

Auch auf anderen Gebieten gibt es Fortschritte für ältere Herzpatienten. Um den Kreislauf vor allem der linken Herzkammer zu unterstützen, werden seit den 70er Jahren Pumpen eingesetzt – nicht zu verwechseln mit Herzschrittmachern, die direkt den Herzmuskel stimulieren. Die Pumpen sind in den letzten Jahren immer kleiner, leichter und leiser geworden, die Patienten tragen den dazugehörigen Akku außen am Körper in einer Schultertasche. In den 90er Jahren haben amerikanische Ärzte Modelle entwickelt, die mit dem sogenannten Rotationssystem funktionieren. Sie erlauben im Gegensatz zu früheren, pulsativen Systemen einen gleichmäßigen Fluss des Blutes. 1998 wurde erstmals eine Pumpe mit Rotationssystem implantiert – und zwar am DHZ. 2009 waren es schon 150.

Dabei gilt das „Bridge-to-Transplant“-Konzept. Die Pumpen dienen hauptsächlich zur Überbrückung, bis ein neues Spenderherz implantiert werden kann. Da die Lage auf dem Spendermarkt aber extrem angespannt ist – 2009 wurden in ganz Deutschland nur 347 Herzen implantiert – werden dabei häufig Jüngere bevorzugt. Das fällt für Ältere jetzt nicht mehr ganz so ins Gewicht, denn die Herzkreislaufpumpen sind so weit entwickelt worden, dass sie auch auf Dauer im Körper verbleiben können. Ihr Einsatz wird zur Routine. Hetzer stimmt das zuversichtlich: „Natürlich ist das, was wir tun, nur lebensverlängernd, wie alle unsere Bemühungen. Aber es überleben jetzt doch diejenigen, die früher mit 60 gestorben wären“, sagt er.

Annemarie Musswick bekam im Sommer ihre neue Aortenklappe eingepflanzt. Auf das Entlassungsgespräch hat sie verzichtet, sie wolle, sagte sie, „jetzt erst mal shoppen gehen“. Ihr Zuhause ist Neukölln, dort ist sie nicht nur geboren, dort hat sie auch ihr ganzes Leben verbracht. Ihre Wohnung liegt im dritten Stock, ohne Aufzug. „Das laufe ich jetzt täglich einmal runter und einmal rauf.“ Letztes Jahr, als es ihr schlecht ging, mussten Freunde für sie einkaufen. Das macht sie jetzt wieder alleine.

Noch bis 30. November veranstaltet die Deutsche Herzstiftung ihre jährlichen Herzwochen. Die bundesweite Aufklärungsaktion widmet sich dieses Jahr dem Thema Herzrhythmusstörungen.

In der dazugehörigen Broschüre schreiben Experten, darunter auch Dietrich Andresen vom Vivantes Klinikum Am Urban, laienverständlich über den aktuellen Stand von Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten. Die Broschüre enthält außerdem Tipps zum Umgang mit Herzrhythmusstörungen. Sie ist gegen drei Euro in Briefmarken erhältlich bei der Deutschen Herzstiftung e. V., Vogtstraße 50, 60322 Frankfurt am Main.

Veranstaltungen sind unter www.herzstiftung.de gelistet. Am 24.11. um 17.30 Uhr informieren Vorträge im Palais in der Kulturbrauerei (Schönhauser Allee 36) über Vorhofflimmern.

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