zum Hauptinhalt
Großbritannies neue Premierministerin Theresa May bei Queen Elizabeth II. im Buckingham Palace.

© REUTERS/Dominic Lipinski

Neue britische Premierministerin: Theresa May: Die Trümmerfrau

Noch einmal ganz großes Theater: „Auch ich war einmal die Zukunft“, sagt David Cameron beim letzten Auftritt als Premier. Unter Applaus verlässt er das Parlament – und überlässt Theresa May die Lösung der Krise in Großbritannien.

Nein, er werde seine Karriere nicht bei der BBC-Tanzsendung „Strictly Come Dancing“ fortsetzen. Nächste Frage. Ja, er habe seiner Nachfolgerin geraten, auch nach dem Brexit so enge Beziehungen zur EU herzustellen wie möglich. Nächste Frage.

Am Mittwoch um 12 Uhr tritt David Cameron zu seiner letzten „Prime Minister’s Question Time“ an, der wöchentlichen Fragestunde, der sich der britische Regierungschef im Parlament unterziehen muss. 92 Stunden hat Cameron in diesem theatralischen Format der theatralischen britischen Politik Rede und Antwort gestanden. Noch einmal wird deutlich, warum ihm gleich zwei Tory-Abgeordnete für seinen Witz und seine Schlagfertigkeit danken. Den Oppositionsführer Jeremy Corbyn vergleicht er mit dem „Schwarzen Ritter“ aus Monty Pythons Film „Die Ritter der Kokosnuss“, dem zwar alle Gliedmaßen abgehackt werden, der aber darauf beharrt, dass es sich dabei nur um eine Fleischwunde handele. Den Labour-Abgeordneten hält er vor, dass es im Premierministerinnen-Wettkampf nun bald 2:0 stehe. Er lobt die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und vergisst nicht zu sagen, wie sehr er Larry mag, die Katze, die in 10 Downing Street lebt. David Cameron ist kämpferisch und gut gelaunt und genießt ohne Zweifel seine letzte große Show im Parlament, dem er in Zukunft nur noch als normaler Abgeordneter angehören wird.

Schon Gordon Brown zerbrach unter der Bürde des Amtes

David Cameron hat den Brexit nicht gewollt, und doch wirkt er, seitdem der Ausstieg Großbritanniens aus der EU feststeht, seltsam entspannt. Bereits am frühen Morgen nach der Entscheidung trat er nicht wie ein Verlierer vor die Presse, sondern wie jemand, der meint, dem Schicksal zur Geltung verholfen zu haben. Er kündigte seinen Rücktritt an, obwohl er immer gesagt hatte, auch bei einem Sieg von „Leave“ im Amt bleiben zu wollen. Und als seine Nachfolgerin feststand, zog er den Wechsel von Oktober auf diesen Mittwoch vor, als ob er es gar nicht erwarten könnte, aus dem Amt zu scheiden. Er drehte sich um, summte ein paar Töne und ging durch die offene Tür von 10 Downing Street. „Right. Good“, war noch zu hören, weil die Mikrofone nicht rechtzeitig abgestellt wurden. Auch das war also erledigt.

Theresa May wurde am Mittwoch von Queen Elizabeth II. zur neuen Premierministerin ernannt.

© AFP/ OLI SCARFF

Sein Vorgänger Gordon Brown war unter der Bürde des Amtes zusammengebrochen, David Cameron hatte vielleicht zu wenig Sinn für diese Bürde. Sein Ehrgeiz war möglicherweise in dem Moment schon vollständig befriedigt, als er Premier wurde. Er blickt gelassener auf sein politisches Vermächtnis als manch anderer. Cameron hatte im vergangenen Jahr angekündigt, bei der nächsten Wahl nicht wieder antreten zu wollen. Er hatte sich mit dieser Ankündigung unnötigerweise geschwächt, denn für seine innerparteilichen Konkurrenten war er seitdem ein Parteiführer auf Abruf. Das nimmt nur jemand in Kauf, der längst mit sich ausgemacht hat, dass er gut ohne das Amt leben kann, der sich sicher ist, dass er raus will.

Cameron - ist ein Brexit gegen den Tod des eigenen Sohnes?

Möglicherweise hängt dieser Gleichmut, der ihn politisch zum Hasardeur werden ließ, auch mit einer dramatischen persönlichen Erfahrung zusammen. Nur ein Jahr vor dem Amtsantritt 2010 war der sechsjährige Sohn der Camerons gestorben. Ivan war mit einer schweren Hirnschädigung auf die Welt gekommen und litt zudem unter Epilepsie. Die Diagnose habe ihn getroffen wie ein „Güterzug“, sagte Cameron. Es gibt viele Bilder von ihm, wie er den Kinderwagen mit seinem schwerbehinderten Sohn schiebt, daneben seine Frau und die beiden jüngeren Kinder. Sie hatten, sagte Samantha Cameron einmal, ihr Leben gerade um Ivan herum arrangiert, als er überraschend kurz vor seinem siebten Geburtstag starb. „Die eigene Welt fällt in sich zusammen“, sagte David Cameron, der sich angeblich noch Jahre danach Hilfe bei der Trauerbewältigung holte. Und im vergangenen Jahr sprach Samantha Cameron in einem langen Interview darüber, dass der Schmerz niemals vergehen werde. Was ist schon ein Brexit gegen den Tod des eigenen Sohnes?

Um 12 Uhr 35 hat Cameron im Parlament die abschließende Frage beantwortet. „Das Letzte, was ich sagen möchte, ist, dass man sehr viel in der Politik erreichen kann“, sagt er als Schlusswort. „Man kann vieles umsetzen. Und dass es letztlich um den Dienst an der Öffentlichkeit geht, um das nationale Interesse. Nichts ist unmöglich, wenn man sich wirklich dahinterklemmt. Denn, wie ich einmal gesagt habe, auch ich war einmal die Zukunft.“ Dann setzt sich Cameron, während sich die konservativen Abgeordneten erheben und klatschen. Unter dem Jubel seiner Fraktion schüttelt Cameron dem Parlamentssprecher die Hand und verlässt den Saal.

Theresa May sitzt die ganze Zeit schräg hinter ihm. Eine Frage stellt sie nicht. Sie jubelt, wenn alle jubeln, lacht über Camerons Witze, wenn alle lachen. Doch nichts in ihrem Gesicht lässt darauf schließen, was sie von jenem Mann hält, der unter Applaus das Parlament verlässt und ihr ein Land in Trümmern hinterlässt.

Letzte Worte. David Cameron stellt sich im Unterhaus noch einmal der wöchentlichen Fragestunde der Abgeordneten. Seine Nachfolgerin Theresa May sitzt schräg hinter ihm und schweigt.

© AFP

Großbritannien befindet sich in der schwersten politischen Krise seit Jahrzehnten. Die Briten verfolgten in den vergangenen Tagen das vorläufige politische Scheitern Boris Johnsons, den Rücktritt des Europagegners und Ukip-Vorsitzenden Nigel Farage, den Absturz des britischen Pfunds auf seinen niedrigsten Stand seit 30 Jahren, den Rücktritt von siebzehn Mitgliedern des Schattenkabinetts, ein Misstrauensvotum gegen den Vorsitzenden der Labourpartei, den blitzartigen Anstieg rassistischer Übergriffe im Land und den Kampf um die Parteivorsitze der zwei größten Parteien des Landes – beide waren de facto mehrere Tage ohne Chef.

Als Erstes wird sich Theresa May um ihre eigene Partei kümmern müssen. Zwar sind ihre konservativen Tories jetzt nicht mehr so ziellos, wie das in den Tagen nach Camerons Rücktritt der Fall war, doch das Referendum hat die Partei gespalten: 185 Abgeordnete der Partei stimmten gegen den Brexit, 138 unterstützten den EU-Austritt. Und obwohl May sich für den Verbleib eingesetzt hatte, scheint sie bereits damit angefangen zu haben, sich dem Brexit-Lager anzunähern. So hat beispielsweise Priti Patel, Staatssekretärin im Arbeitsministerium und Brexit-Befürworterin, Mays Kandidatur unterstützt und gilt nun als mögliche Kandidatin für ein Amt im neuen Kabinett. Die Analysten überbieten sich schon den ganzen Tag mit Spekulationen darüber, wer sonst noch in Mays Regierung berufen werden könnte. Mehr Frauen sollen es wohl werden, so viel ist schon durchgesickert.

„Brief des letzten Auswegs“ an die vier Atom-U-Boote

Zunächst aber kommt es auf eine andere Frau an: die Queen. Sie ist am Vormittag in Cambridge und besucht mit ihrem Mann Prinz Philip den dortigen Rettungshubschrauberdienst, den Arbeitsplatz ihres Enkels Prinz William. Später am Tag wird sie nach London eingeflogen. Ohne sie geht nichts. David Cameron darf ihr noch ein letztes Mal die Hand schütteln und um seine Entlassung bitten. Erst dann ist für ihn offiziell Schluss mit „Remain“. Das Protokoll verlangt, dass danach Theresa May in den Buckingham Palace kommt und von Queen Elizabeth II. zur Premierministerin ernannt wird.

Queen Elizabeth II. wurde extra mit dem Hubschrauber eingeflogen.

© AFP

In ihrer Wahlkampfrede, kurz bevor sie als künftige Premierministerin feststand, hat Theresa May schon einen Vorgeschmack darauf gegeben, was die Briten unter ihrer Führung erwartet. Sie konzentriert sich auf soziale Themen, während Cameron Sparpolitik auf Kosten der Sozialleistungen betrieb. Sie wolle, sagte sie, „ein Land, das für jeden funktioniert“ – nicht nur für die Eliten. Und sie wird versuchen, was noch niemand versucht hat: ihr Land aus der Europäischen Staatengemeinschaft zu lösen. „Brexit heißt Brexit“, an diesem Versprechen wird sie sich messen lassen müssen. Sobald sie Artikel 50 des EU-Vertrages anwendet und so einen Austritt in Gang setzt, muss das Land neue Regeln mit der Staatengemeinschaft aushandeln. Da May eine erklärte Hardlinerin ist, die die Einwanderung nach Großbritannien begrenzen will, werden die Gespräche wohl extrem schwierig.

Sicher ist aber schon, dass Theresa May als erste Amtshandlung einen Brief schreiben wird. Der „Brief des letzten Auswegs“ wird an die vier Atom-U-Boote der Streitkräfte geschickt und legt fest, was passiert, sollte ein Atomschlag die britische Regierung auslöschen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false