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Besser verschwinden.

© IMAGO

Snapchat-App: Endlich: Bilder löschen sich selbst

Millionen junger Nutzer lieben die kostenlose App. Woher kommt die neue Lust an der digitalen Flüchtigkeit?

Macht aber auch Spaß: Das eigene Knie fotografieren. Die gerunzelte Stirn. Die rausgestreckte Zunge. Den zugemüllten Schreibtisch. Den Kaffeepott. Verwackelte Schnappschüsse oder schiefe Grimassen, auf die man mit ein paar flüchtigen Strichen Smileys oder Herzchen oder Ausrufezeichen pinseln kann. Oder hastig drei Worte drübertippen. Fertig. Abschicken. Und vergessen.

Snapchat heißt die App, mit der der alberne, selbstreflexive, schnelllebige Chatdialog gerade eine neue Blüte erlebt. Innerhalb von zweieinhalb Jahren wurde das kostenlose Programm weltweit millionenfach heruntergeladen, vor allem amerikanische Jugendliche lieben die App. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber das Wirtschaftmagazin „Forbes“ schätzte kürzlich, dass Snapchat mittlerweile rund 50 Millionen aktive Nutzer hat, Durchschnittsalter: 18. Auch in Deutschland verbreitet sich Snapchat zunehmend – wenn auch noch mit deutlichem Abstand zu WhatsApp, dem Kurznachrichtenprogramm, mit dem sich Texte, Bilder oder Sprachnachrichten an Einzelpersonen oder Gruppen verschicken lassen und das kürzlich für 19 Milliarden Dollar von Facebook gekauft wurde.

Doch was ist das Besondere an Snapchat? Kurznachrichtendienste gibt es wie Sand am Meer, Fotos und Texte kann man auch per SMS, E-Mail oder Twitter verschicken. Warum lieben die Nutzer gerade dieses extrem einfach gestrickte Programm mit seinen äußerst limitierten Funktionen? Hinter Snapchat stehen, wie könnte es anders ein, zwei ehemalige Stanford- Studenten aus Kalifornien. Marc Zuckerberg soll ihnen Ende 2013 ein milliardenschweres Kaufangebot gemacht. Sie lehnten dankend ab. Dass Facebook sich den jungen Konkurrenten gerne einverleiben würde, ist symptomatisch für einen Paradigmen- und Generationswechsel im Silicon Valley.

Riesen befürchten Stagnation

Die Plattformriesen sind doch in die Jahre gekommen, sie fürchten schon Stagnation oder sogar Nutzerschwund. Facebook ist gerade zehn geworden, auch Twitter gibt es schon seit 2006. Behäbige alte Gesellen sind das, zumindest aus Sicht heutiger Jugendlicher. Und außerdem Orte, an denen haufenweise Eltern und Großeltern unterwegs sind.

Aber es ist nicht nur der Drang nach unbesetztem Neuland, der die jungen Nutzer in die Arme von Snapchat treibt. Schuld sind auch die Archivierungsstrategien der etablierten Plattformen. Im Glauben, ihren mitteilsamen Nutzern damit einen großen Gefallen zu tun, wurde das Löschen von Inhalten zur Ausnahme erklärt – und das Aufbewahren zum Normalzustand. Jedes Bild, jeder Kommentar, alles soll sichtbar und präsent bleiben. Das Profil ist gedacht als Tagebuch, Pinnwand und Fotoalbum auf Lebenszeit. Ein kluger Schachzug von Facebook und Konsorten: langfristige Kundenbindung durch Monopolisierung und Zentralisierung der digitalen Identität. Wo du alle deine Daten, Kontakte und Erinnerungen hast, da gehst du nicht weg.

Trotzdem, die Zufriedenheit der Nutzer hat spürbar nachgelassen. Das Netzprofil mutierte vom Segen zum Fluch. Es ist in den vergangenen Jahren viel über den wachsenden Normierungsdruck diskutiert worden, über vorauseilende Anpassung und Selbstzensur. Der Diskurs ist bis in die Kinderzimmer hineingeschwappt. Eine ganze Teenager-Generation ist aufgewachsen mit der Mahnung der Eltern: Erst nachdenken, dann posten! Das Internet vergisst nichts! Denk an den Personalchef! Die permanente Sorge, dass der persönliche Ruf sich schon mit einem ungünstigen Foto, einem unbedachten Tweet auf alle Zeit ruinieren lässt, treibt ausnahmslos alle Alters- und Berufsgruppen um. Parallel wuchs die Sehnsucht nach Alternativen: Kann man sich denn nicht einfach mal irgendwo aufhalten, ohne Spuren zu hinterlassen? Ratlose Politiker forderten zwischendurch sogar einen digitalen Radiergummi, was immer das sein sollte.

Die Snapchat-Gründer haben, wenn man so will, diese Stimmung aufgegriffen und in Programmiersprache verwandelt. Man wolle das Prinzip der „Permanenz“ von Social Media hinterfragen, steht im Firmenblog. Dauerhaftigkeit sei nämlich nur eine von mehreren Optionen. Herkömmliche Profile entsprächen einem Leben hinter Glas, präpariert und inszeniert. Das Snapchat-Profil dagegen sei „lebendig und fließend“. Es gehe gerade nicht um den „traditionellen Kodak-Moment“ – nicht nur darum, „hübsch oder perfekt“ zu wirken: „Wir bauen eine Foto-App, die einen Raum schafft, in dem man lustig, ehrlich oder sonst wie sein kann.“ Wer diesen Raum betritt, muss reaktionsschnell sein. Maximal zehn Sekunden Zeit hat der Empfänger, das ihm zugeschickte Bild anzuschauen, er muss dafür den Finger auf der Nachricht lassen. Lässt er los oder ist die Zeit abgelaufen, verschwindet das Bild. Anfangs, so schreiben die Gründer, sei Snapchat vor allem in kalifornischen Schulen zum Spicken benutzt worden. Denn selbst wenn man die Handys konfisziert hätte, wären die Schnappschüsse nicht mehr auffindbar gewesen.

Angst vor Überwachung

Snapchat steht für Vergänglichkeit. Und Vergänglichkeit ist in der von der Angst vor Beobachtung und Überwachung durchdrungenen Mediengesellschaft eine neue Form von Freiheit. Die Freiheit, nur im und für den Augenblick zu kommunizieren und nicht stets die Ewigkeit und alle bis dahin möglicherweise eintretenden Komplikationen mit im Blick haben zu müssen. Die Bilder, die bei Snapchat entstehen und verschickt werden, dürfen alles sein: belanglos, langweilig, affig, obszön. Sie müssen nicht vor Versenden auf ihre Wirkung und Relevanz geprüft werden, auch nicht auf ihre humoristischen oder ästhetischen Qualitäten. Sie verschwinden ohnehin viel zu schnell, als dass es lohnen würde, viel Zeit in ihre Herstellung zu investieren. „Das versendet sich“, hieß es früher oft beim Fernsehen oder Rundfunk. Auch bei Snapchat muss man sich nicht um peinliche Tippfehler sorgen, oder sich das Hirn verrenken, um eine total spontan und authentisch klingende Formulierung zustande zu bringen. Der Kreativitäts- und Originalitätsdruck ist minimal. Versendet sich ja eh alles binnen weniger Sekunden.

Doch die Freiheit und Sicherheit, in der sich die Nutzer bei Snapchat wiegen, ist trügerisch. Denn das Vergänglichkeitsprinzip funktioniert natürlich nur an der Oberfläche. Im Hintergrund sammelt auch Snapchat alle möglichen Daten, die es auf den Smartphones seiner Nutzer ergattern kann. Und ob die Bilder, die nach wenigen Sekunden verloren scheinen, auch wirklich von den Servern des amerikanischen Unternehmens verschwinden? Snapchat verspricht das in seinen AGBs zwar, legt sich aber sicherheitshalber nicht auf einen genauen Zeitraum fest. „Außerdem können wir andere nicht davon abhalten, Kopien von deinen Snaps zu machen“, heißt es weiter. Von den Bildnachrichten lassen sich ohne Weiteres Screenshots machen – außerdem kann man sie theoretisch mit einem dritten Gerät abfotografieren.

Schnell hat die neue, heile digitale Welt, in der jeder nach seine Façon fröhlich sein darf, Risse bekommen. In letzter Zeit häufen sich die Negativschlagzeilen. Snapchat musste zugeben, dass es ein Sicherheitsproblem gibt, nachdem Hacker sich Zugriff auf Millionen Nutzerdaten verschaffen konnten. Außerdem häufen sich Artikel, die davor warnen, dass Jugendliche die App leichtsinnig für sexuelle Inhalte nutzen würden, Stichwort „Sexting“.

Das Unternehmen hat reagiert und Richtlinien für besorgte Eltern herausgegeben. Tenor: Man kann nicht genug warnen. Trichtern Sie Ihrem Kind ein, dass es keine unbedachten Mitteilungen verschicken und sowieso nur mit vertrauenswürdigen Personen kommunizieren soll. Denn im Internet ist nichts davor sicher, aufbewahrt oder weitergereicht zu werden. Auch nicht bei Snapchat. Leider.

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