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Medien: Ein Land findet seine Helden

Sat 1 inszeniert das „Wunder von Lengede“. 1963 wurden elf Bergleute nach einer dramatischen Rettungsaktion ins Leben zurückgeholt. Berliner Luftbrücke, Fußball-WM 1954, Willy Brandt: Film und Fernsehen bedienen sich mehr und mehr bei der jüngeren deutschen Geschichte.

Am 7. November 1963 erblickte Bernhard Wolter nach 14 Tagen völliger Dunkelheit wieder das Sonnenlicht und sank in die Arme seiner Retter. Wolter war der letzte von elf längst tot geglaubten Kumpels, die beim wohl größten Grubenunglück in der deutschen Nachkriegszeit gerettet wurden. Das Ereignis wurde das „Wunder von Lengede" – und es schrieb ein Stück Fernsehgeschichte. Erstmals konnte die gesamte Nation eine dramatische Rettungsaktion live vor den Bildschirmen mitverfolgen. 29 Bergleute hatten ihr Leben verloren, als der Schlamm des Klärteichs nachgab, und eine halbe Million Kubikmeter Wasser in den Stollen brachen. Dann wurden ein Mikrofon und Kameras des Norddeutschen Rundfunks in die Tiefe gelassen, mit den Eingeschlossenen gesprochen. 440 Reporter aus aller Welt berichteten Tag und Nacht von den Rettungsarbeiten aus der niedersächsischen Kleinstadt. Halb Europa, Amerika und Asien sahen zu, wie am Ende der Krankenwagen mit Bernhard Wolter von der Unglücksstelle rollte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis aus diesen Momenten ein Event-Movie werden sollte.

Gerade wurden die Dreharbeiten zu einem zweiteiligen Sat1-Film beendet, der Ende Oktober zum Jahrestag des Unglücks ausgestrahlt werden soll: „Das Wunder von Lengede". Zwei Jahre dauerten die Vorbereitungen. Für Macher wird es das „TV-Ereignis des Jahres", zumindest den Zahlen nach. Rund sieben Millionen Euro standen der Kölner Firma „Zeitsprung" zur Verfügung, um die dramatischen Bilder von 1963 in verschiedenen Orten Niedersachsens auferstehen zu lassen. Dutzende von Zeitzeugen wurden gehört, 1600 Komparsen verpflichtet, prominente Schauspieler im Dieter-Wedel-Ausmaß gecastet, darunter Heike Makatsch, Thomas Heintze, Axel Prahl, Jan-Josef Liefers, Nadja Uhl und Heino Ferch. Und oben drauf noch extra ein neues Studio gebaut und gemietet, damit der dramatische Stolleneinbruch überhaupt inszeniert werden kann: die „Waterfall"-Studios in Goslar.

Goslar. Da denkt man höchstens an Sigmar Gabriel, und irgendwie hat der auch mit dem Movie und dem Filmstandort Deutschland zu tun. Hier hat der Münchner Filmarchitekt Götz Weidner („Das Boot", „Die unendliche Geschichte") in einer ehemaligen Erzwäsche drei aneinanderschließende Hallen mit verschiedenen Bodenniveaus erschlossen. Sie sind verbunden mit einem undurchlässigen 100 Meter langen Metallkanal, durch den innerhalb von 45 Sekunden 300 000 Liter Wasser gepumpt werden können. Der Wassereinbruch, der sich in Lengede 60 Meter unter der Erde abgespielt hat, passiert in Goslar zu ebener Erde. Derart aufwendig werden in Deutschland selten Fernsehfilme produziert. Und bislang musste man für solche Wasserfall-Szenen auch immer nach Malta fliegen. Nun die Studios mitten im Harz: eine Film-Kulisse wie Potsdam-Babelsberg, Köln-Hürth oder die Bavaria Studios in München. Für die Flutung von U-Bahn-Trassen, U-Booten und Schiffskorridore à la „Titanic" kann es nach Goslar gehen. Wo gerade Heino Ferch um sein Leben schwamm, kommt dann vielleicht bald Arnold Schwarzenegger zum Action-Dreh.

„Wir haben weitere große Projekte in Planung", sagt der „Zeitsprung"-Produzent Michael Souvignier. Mit dem Eigentümer des Geländes, dem Land Niedersachsen, werde über die weitere Nutzung der „Waterfall"-Studios verhandelt. Das dauert ein wenig länger, nach der Abwahl des bekanntesten Goslarer Bürgers, Sigmar Gabriel. Jetzt sei man erst mal „sehr stolz", dass das langwierige Lengede-Projekt abgedreht wurde.

Das war für die Schauspieler eine ziemlich feuchte Erfahrung. Beim Dreh blieben nur die Objektive und Linsen trocken. Kameraleute zwängten sich in künstliche Schächte, Ferch, Liefers & Co. stand das Wasser bis zur Brust, als Regisseur Kaspar Heidelbach detailgetreu nachspielen ließ, was vor 40 Jahren Untertage im Stollen „Mathilde" passierte. Der Set war schon abenteuerlich. Man darf gespannt sein, was die Post-Produktion aus den Bildern macht. Heidelbach kannte kein Pardon, auch nicht, als er sich selber im gefluteten Filmstollen eine Rippe brach.

Wer den Rheinländer hinter den Kulissen beobachten konnte, ahnt, wie viel die Schauspieler körperlich einbringen mussten. Das betrifft nicht nur die Kräuterzigaretten, die Nichtraucherin Heike Makatsch an einem kalten Drehtag so lange paffen musste, bis die Szene im Kasten war. Makatsch, die 1963 noch gar nicht geboren war, spielt die Frau eines Verschütteten, der nicht gerettet wurde. Die Menschen und ihre Geschichten, ihre Emotionen – die Produktion legt Wert darauf, dass „Das Wunder von Lengede" kein reiner Katastrophenfilm zur Primetime werde. Der Bohrmeister, der seinen besten Freund unter der Erde sucht, Frauen, die den aufopferungsvoll kämpfenden Rettungskräften Stullen schmieren, die Witwen, die in Trauerkleidung neben ihren Nachbarinnen bangen, um da zu sein, falls diese ihr Schicksal teilen müssen. Das Ganze natürlich mit Happy End und bestens auf Plakaten, DVDs und Film-Spots zu bewerben: die Geschichte jener Männer und Frauen, die selbst dann nicht aufgaben, als alles verloren schien. Wenn das kein „Filmfilmfilm" für Sat 1 ist.

Mitten hinein in die Fernseh- und Filmkrise also, solche Groß-Projekte, der dramatische Fokus auf die vergangenen 70 Jahre. Es scheint, als ob die jüngere deutsche Geschichte gerade recht käme: die Filme zur RAF, der Aufstand am 17.Juni, im Herbst das Leben von Willy Brandt, dann 50 Jahre Fußball-Wunder von Bern, die Berliner Luftbrücke, der Hitler-Film im ZDF und sicher irgendwann der Amoklauf von Erfurt – alles Quoten- und Erfolgsgaranten. Nur das Ausland scheint nicht immer so an den deutschen Heldensagen interessiert zu sein. Sat1 freute sich vor zwei Jahren beim deutsch-deutschen Flucht-Projekt „Der Tunnel" über neun Millionen Zuschauer. Allerdings gab es beim „Tunnel" keine nennenswerte internationale Auswertung, außer ein paar Wochen Kino in den USA. Die zweiteilige Wiederholung im deutschen Fernsehen fiel durch. Deswegen ist man bei Sat1 vorsichtig geworden, was die Erwartungen an „Das Wunder von Lengede" betrifft. In der TV-Zweitausstrahlung läuft die sichere Variante: eine einteilige Version, die auch in den Weltvertrieb gehen soll. Anfragen lägen vor.

Soviel ist – neben den „Waterfall"-Studios – schon mal sicher: „Das Wunder von Lengede" passt gut ins Jahr 2003. Nach den Kriegsbildern der vergangenen Wochen ist es ziemlich aufschlussreich, sich wieder an die Wurzeln der Krisen- und Katastrophenberichterstattung im deutschen Fernsehen zu erinnern. Sie liegen im Schacht von Lengede, 1963.

Einer der ersten realen TV-Helden war die „Nummer Eins" unter den Überlebenden, der kürzlich verstorbene Bernhart Wolter. 60 Meter tief in die Bohrlöcher hat der NDR Wolter und seinen Kumpels ein Mikro herunter gelassen, daneben lagen die Leichen. Die erste Kontaktaufnahme mit den Eingeschlossenen. Dagegen muten die Live-Berichte aus Bagdad fast wie ein Kinderspiel an. Aber auch nur fast.

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