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Eine Laborantin untersucht in der Pflanzenschutzmittelanlage der BASF im südbrandenburgischen Schwarzheide eine Probe (Archivfoto vom 20.03.2003). Die chemische Industrie in Deutschland hat 2005 den höchsten Produktionszuwachs seit mehr als 20 Jahren erzielt. Die Produktion chemischer Erzeugnisse stieg im vergangenen Jahr auch dank einer anziehenden Inlandsnachfrage um 7,1 Prozent, wie der Branchenverband VCI am Dienstag (07.03.2006) in Frankfurt mitteilte. Foto: Patrick Pleul dpa/lhe (zu dpa 0167 vom 07.03.2006) +++(c) dpa - Bildfunk+++

© Patrick Pleul/dpa

Chemieindustrie auf Kompromisskurs: Mehr Geld für 580.000 Beschäftigte

Anfang kommender Woche soll es einen Tarifabschluss geben in der Branche, die extrem unter den hohen Energiepreisen leidet.

Die Tarifpartner in der Chemieindustrie haben sich verkalkuliert. Aufgrund der unsicheren Lage wenige Woche nach Kriegsbeginn unterbrachen sie im Frühjahr die Tarifverhandlungen und vertagten sich um ein halbes Jahr. In der Hoffnung auf bessere Zeiten. An diesem Sonntag trifft man sich nun in Wiesbaden, um bis Dienstag einen Tarifabschluss zu finden. Drei Tage für ein ambitioniertes Unterfangen, denn die Situation ist viel schwieriger als im April.

BASF verbraucht so viel Gas wie die Schweiz

Kaum eine andere Branche ist so abhängig von Gas wie die Chemieindustrie. Allein der riesige BASF-Standort in Ludwigshafen verbraucht so viel Gas wie die gesamte Schweiz. In der Branche insgesamt ist die Produktion seit Beginn des Angriffs der Russen auf die Ukraine um zwölf Prozent gesunken. „Viel Spielraum für tabellenwirksame, also dauerhafte Tariferhöhungen gibt es nicht“, sagt Hans Oberschulte, der Verhandlungsführer der Arbeitgeber. Aber immerhin: Es gibt Spielraum.

„Am Ende muss die Mischung aus Kostenbelastung, Laufzeit und Flexibilität auch für die Unternehmen passen“, proklamiert Oberschulte eine Binsenweisheit der Tarifpolitik, die aber anders klingt als die „Wir-geben-nix-Rhetorik“ der Metallarbeitgeber in den seit Wochen auf der Stelle tretenden Verhandlungen mit der IG Metall.

In der Metallindustrie werden die Einkommen von fast vier Millionen Beschäftigten verhandelt, in der Chemie sind es 580.000. Die IG Metall fordert acht Prozent, die IG BCE hatte ursprünglich keine prozentuale Forderung aufgestellt, sondern wollte die Realeinkommen sichern. Bei einer Inflationsrate von zehn Prozent ist dieses Ziel so weit weg wie der Weltmeistertitel für die Nationalelf, deshalb redet auch kein Gewerkschafter mehr davon . „Ich war noch nie dafür, die Weltmeisterschaft im Fordern zu gewinnen, sondern die Champions League beim Ergebnis“, sagt Ralf Sikorski, der Verhandlungsführer der IG BCE.

Beschäftigte und Betriebe brauchen Klarheit

Die diversen Krisen hätten zu einem „skurrilen Umfeld“ geführt, das er so in 40 Jahren Tarifpolitik noch nicht erlebt habe. „Wir stecken alle in der Verantwortung, die Dinge verantwortlich anzugehen“, formuliert Sikorski etwas holprig den Ansatz der Gewerkschaft: Keine Drohung mit Streiks, sondern Appell an die Arbeitgeber, eine ausgewogenen Lösung zu suchen, die keine Seite übervorteilt. „Wir wollen Klarheit schaffen - das wollen auch die Leute“, sagt Sikorski. Je früher die Beschäftigten wissen, wann sie mit wie viel Geld rechnen können, desto besser. Und die Unternehmen bekommen Planungssicherheit mindestens für die nächsten anderthalb Jahre. Auf eine längere Laufzeit des Vertrags lässt sich Sikorski nur für einen hohen Preis ein.

12,9 Prozent
Anteil der Personalkosten in der Chemie

Der Anteil der Personalkosten an den Gesamtkosten lag in den 1900 Chemiefirmen vor wenigen Monaten bei 14 Prozent. Inzwischen sind es nach Angaben Sikorskis nur noch 12,3 Prozent, weil der Anteil der Energiekosten stetig steigt und bis zu 30 Prozent beträgt. Das relativiert die Relevanz der Personalkosten. Der von der Expertenkommission empfohlene Gaspreisdeckel ist für die Firmen wichtiger als ein paar Lohnprozente. IG BCE-Chef Michael Vassiliadis war einer der Vorsitzenden der Kommission.

Die Inflationsprämie hilft

Vassiliadis und Sikorski haben im Spätsommer die Idee eines „tariflichen Entlastungsgeld“ präsentiert, das nach dem Vorbild der Coronaprämie von Steuern und Abgaben befreit ist und den Spielraum der Tarifparteien erhöht. Die Bundesregierung griff das auf und beschloss die „Inflationsprämie“: Bis zu 3000 Euro können die Tarifparteien mit ins Tarifpaket legen. Die vom Steuerzahler mitfinanzierte Sonderzahlung ergänzt die prozentuale Erhöhung, die wegen der Inflationsprämie weniger hoch ausfällt. Ferner wünscht sich die Gewerkschaft einen Mindestbetrag, damit untere Einkommen besonders stark angehoben werden. Die Arbeitgeber wiederum fordern eine Möglichkeit zur Abweichung vom Tarifergebnis für Firmen in Not.

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Beim Mindestbetrag machen die Arbeitgeber Bedenken geltend, weil zum Beispiel Firmen in der Kunststoffverarbeitung, die besonders unter den Energiepreisen leiden, aufgrund relativ geringer Löhne besonders von der Mindesterhöhung betroffen wären. Doch ein Mindestbetrag von 200 Euro im Monat, wie ihn sich die IG BCE vorstellt, sollte möglich sein. Zumal die Tarifparteien wieder eine Abweichung nach unten einbauen werden, ähnlich wie im vergangenen April. Damals verständigte man sich auf die einmalige Zahlung von 1400 Euro bis zu den erneuten Tarifverhandlungen im Oktober. Firmen in Not mussten nur 1000 Euro zahlen - das nahmen 147 der 1900 Chemieunternehmen in Anspruch.

Was bei den Menschen ankommt, ist eine Investition in die Volkswirtschaft.

Ralf Sikorski, Verhandlungsführer der IG BCE

Seit April hat sich die Lage deutlich verschärft. Bis zum kommenden Dienstag wollen die Tarifparteien eine Reaktion darauf finden, die Betriebe und Beschäftigte gleichermaßen zufriedenstellt. „Was bei den Menschen ankommt, ist eine direkte Investition in die Volkswirtschaft“, meint der Gewerkschafter Sikorski.

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