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Himmel, hilf. Regen kann ein Geschenk der Götter sein. Oder einfach nur tropfenförmiger Niederschlag.

© Getty Images/iStockphoto

Wetter als Hobby: Sein Regenreich

An jedem Morgen der Gang in den Garten, der Blick ins Messbehältnis. Seit Jahren! Olaf Fröhlich ist ehrenamtlicher Niederschlagsbeobachter. Er sagt: „Das Wetter interessiert alle“

Der Tag, an dem Olaf Fröhlich geboren wurde, war ein sonniger. Ausgerechnet. Für den 1. März 1963 in Wittstock, Prignitz, nördliches Brandenburg, notierte der Deutsche Wetterdienst eine Höchsttemperatur von 1,9 Grad Celsius – und neun Stunden Sonnenschein. Fortan interessierte sich der Junge besonders für Regen.

Da steht er nun, den Reißverschluss seiner Regenjacke hinaufgezogen bis an den Hemdkragen darunter, über seinen Kopf hält er einen riesigen Schirm. Es regnet nicht, es gießt. Schnell und zackig fallen die Tropfen vom Himmel, schnellen wie silbrige Bindfäden an grünen Hecken vorbei, perlen als Kugeln über den schwarzglänzenden Stoff von Herrn Fröhlichs Regenschirm, von dem sie hinabfallen auf den Rasen, die Erde, die sie aufsaugt und längst weich wie eine Matratze geworden ist. Am Horizont liegt ein Regenschleier über der braunen Ackererde, den Bäumen, dem Himmel. Zart ineinander verlaufende Herbstwasserfarben. Es ist ganz still. Nein, nicht ganz. Überall tropft’s.

Es regnet seit Stunden. Seit dem vergangenen Abend, die Nacht hindurch und den ganzen Morgen. Nun ist es fast schon Mittag. Für Olaf Fröhlich heißt das: Es gibt ordentlich was zu messen. „10,4 Liter!“ Und er lächelt. 10,4 Liter sind durchaus bemerkenswert.

Nichts ist beständiger als das Wetter. Wetter gibt es immer, jeden Tag. Und es beschäftigt die Menschen besonders, wenn es nicht den Wünschen entspricht. So wie im Herbst, Beginn der Regenzeit, dunkel, nass, kalt und neblig. Wetter lässt sich nicht bändigen. Allein beobachten können wir es. Versuchen vorherzusagen, was kommen wird. Um vorbereitet zu sein. Ein bisschen. Olaf Fröhlich trägt seinen Teil dazu bei. Seit 1999 ist er ehrenamtlicher Niederschlagsbeobachter für den Deutschen Wetterdienst. Wie vor ihm schon mehr als drei Jahrzehnte seine Mutter. Wenn man so will, kommt Olaf Fröhlich, selbst erst 54 Jahre alt, auf ein halbes Jahrhundert Regenstudium.

Fröhlich steht in seinem Garten hinter seinem Haus in Wulfersdorf, ganz in der Nähe von Wittstock. Er arbeitet im Einzelhandel, verkauft Fahrräder, Motorsägen, Rasenmäher, solche Dinge. Es ist eine der Konstanten in seinem Leben, dass er aus dieser Gegend nie lange fort war. Die andere ist der Niederschlag. Gleich neben Fröhlich ist ein silberfarbenes Behältnis an einer Stange in den Boden gerammt. Es sieht aus wie ein Aschenbecher, zylinderförmig und mittelgroß. Es ist ein geeichter und ordnungsgemäß aufgestellter Niederschlagsmesser, der obere Teil trichterförmig, damit hineinfallende Tropfen den Weg hinab finden in ein herausnehmbares Kännchen. Aus selbigem ergießt Olaf Fröhlich an jedem Morgen um 6.50 Uhr – während der Sommerzeit um 7.50 Uhr – die Wassermenge in ein ebenfalls geeichtes längliches Messglas, von dem schließlich die Regenmenge in Millimetern abgelesen und wenn gewünscht hochgerechnet wird auf Liter pro Quadratmeter.

Mit dem Deutschen Wetterdienst DWD hat Olaf Fröhlich einen „Beobachtervertrag über Betrieb einer konventionellen Niederschlagsmessstation“ abgeschlossen, inklusive Aufwandsentschädigung von 650 Euro jährlich. Er zeigt das Messglas, ein Tropfen verspringt auf seine Brille, trotz Schirm. Der Regen prasselt nun, die Füße werden kühl. Niederschlag von allen Seiten. 10,4 Liter ist ordentlich.

Rund 850 andere Beobachter wie ihn, die täglich die Niederschlagsmenge melden, gibt es in Deutschland. Das Netz der Messstationen ist dicht, durchschnittlich steht etwa alle 20 Kilometer eine, mittels derer mal automatisch, mal per Hand, die Niederschlagsmenge gemessen wird. Ganz schön viel, könnte man denken, gehörte es nicht zu den interessantesten Eigenschaften des Regens, dass er in der einen Ecke tüchtig fällt – und zwei Kilometer weiter gar nicht. Rund 3000 Ehrenamtliche beobachten für den DWD alles Mögliche, von Lufttemperatur und -feuchte bis zu Sonnenstunden, Wind, Flora und Fauna. Doch gerade was den Niederschlag angeht, sind Ehrenamtliche wie Olaf Fröhlich für den Wetterdienst eine große Hilfe. Wer in den Urlaub fährt, muss einen Stellvertreter finden, wer länger krank ist ebenso. Das Land so engmaschig mit automatisierten Messstationen zu versehen, das wäre arg teuer.

Regen ist ein Geschenk der Götter, vom Himmel zu locken mit Tänzen und Gebeten. Regen ist eine Form des flüssigen Niederschlags in Tropfen. Fröhlichs Interesse am Regen ist kein naturkundliches. Auch kein meteorologisches. Regen ist einfach Regen, er fällt und wird gemessen. Und wenn keiner fällt, dann misst man eben: 0. Für die Statistik. Olaf Fröhlich macht das nicht zum Spaß und trotzdem wirklich gern. Aus Nächstenliebe. Er selbst sagt: „Ich bin ein Pünktlichkeitsfanatiker.“

Die Position der Messstationen wird exakt bestimmt, sie müssen frei stehen, unbehelligt von Bäumen, Sträuchern und Gebäuden. Der DWD kommt etwa alle zwei Jahre vorbei – zur Kontrolle und für einen kleinen Schnack. Übers Wetter natürlich.

Ingrid Woelk macht so etwas. Die 62-Jährige ist stellvertretende Leiterin der Regionalen Messgruppe Potsdam des DWD und verantwortlich für Ehrenamtliche wie Olaf Fröhlich. Woelk hat Meteorologie studiert, weswegen sie – obwohl sie doch gar keine Zeit hat – am Telefon übers Wetter ins Plaudern kommt. Über die Langeweile des blauen Himmels vor ihrem Fenster; dass schon wenige Wolken Spannung in die Sache bringen; wie hochinteressant das Zusammenspiel unterschiedlichster Faktoren in der Atmosphäre ist, aus denen Wetter und schließlich Klima entsteht, aber ja, die Messstationen!

„Wo die stehen, ist auch abhängig von der Orografie“, erklärt Woelk. Orografie, das ist die Geowissenschaft des Höhenprofils. Strömt Luft ein Gebirge hinauf, kühlt sie ab und kondensiert. Wolken bilden sich – es regnet. Strömt sie das Gebirge hinab, erwärmt sie sich – die Wolken lösen sich auf. „Natürlich“, sagt Frau Woelk, „gibt es mehr Messstationen im Mittelgebirge als im Flachland.“ Ist der perfekte Standort ermittelt, beginnt die Suche nach einem Ehrenamtlichen.

In Wulfersdorf fand sich Anfang der 50er zunächst ein Landwirt, der setzte sich jedoch in den Westen ab. Es übernahm: seine Schwiegermutter. Eine Dame mit rasch schlechter werdenden Augen, weswegen ab Anfang der 60er Olaf Fröhlichs Mutter einsprang – und dabei blieb.

Daten, die Olaf Fröhlich an jedem Morgen verschickt, stehen dem DWD für sofortige Vorhersagen zur Verfügung. Außerdem werden sie gespeichert, geprüft, archiviert – und bei Bedarf wieder abgerufen für, beispielsweise, Planer von Bauprojekten oder Versicherungen: Gibt es Extremniederschläge in diesem Gebiet? Wie nass, wie trocken ist es dort? Daten über lange Zeit zu erfassen, ist – festgelegt im Gesetz über den Deutschen Wetterdienst Paragraf 4, Absatz 1, Nummer 9 – unabdingbar. „Unter fünf Jahren braucht man gar nicht anfangen“, sagt Ingrid Woelk. Olaf Fröhlich ist mit seiner Station auch in dieser Hinsicht vorbildlich. „Manche machen das schon 40 Jahre“, sagt Ingrid Woelk. Der älteste Ehrenamtliche verstarb im vergangenen Jahr – mit 94. Woelk schlug Fröhlich vor Kurzem für eine Auszeichnung vor. Und tatsächlich wurde Olaf Fröhlichs ehrenamtliches Engagement gewürdigt. Im Schloss Bellevue. Beim Bürgerfest des Bundespräsidenten. Olaf Fröhlich sagt: „Das Wetter interessiert alle.“

Besonders an diesem Tag, da Orkan Xavier erwartet wird, von dem in Wulfersdorf um die Mittagszeit noch nicht mehr zu merken ist als der alles durchtränkende Regen. Der Kopf zieht sich zwischen die Schultern, es senkt sich der Blick.

Kein Wunder, dass die Literatur von jeher oft Natur bemüht, um die Seelen ihrer Helden zu spiegeln. In Sonnenauf- oder -untergängen, Stürmen und Gesträuch. „Die Konsequenz der Natur“, das soll Goethe gesagt haben, „tröstet so schön über die Inkonsequenz der Menschen hinweg.“

Und ob dieses Wetter konsequent ist! In wenigen Stunden wird Xavier allein in Berlin mehr als 50 000 Bäume entwurzeln oder schwer beschädigen. In Brandenburg werden es Tausende mehr sein. Vorher noch die Wulfersdorfer Hauptstraße hinauf, hin zur mittelalterlichen restaurierten Kirche mit ihrer alten Orgel und der beinahe so alten Uhr, die Olaf Fröhlich als Kirchenältester an jedem Sonntag und zwischendurch auch mal zu Vorführzwecken aufzieht. Fröhlich hat sich der Kirche schon immer verbunden gefühlt. Sein Ehrenamt – seine Ehrenämter, er ist auch Vorsteher des 380-Seelen-Dorfes – versteht er als Dienst an der Gesellschaft. Miteinander ist für ihn kein bloßer Begriff. „Wenn nur jeder ein bisschen was machte ...“, sagt er und redet nicht weiter. Stimmt ja: Dann wäre jeder Ort ein besserer.

Olaf Fröhlich, der pünktliche Kirchenuhraufzieher und Niederschlagsmesser, begreift sich als Teilchen eines großen Ganzen. Der Gesellschaft, der Wissenschaft, des Universums!

Zu Hause im Wohnzimmer zieht Olaf Fröhlich alte Aufzeichnungsbögen aus einem blauen Ordner. Heute tippt er die Werte nur mehr in den Computer, der sie über ein Programm dem DWD übermittelt. Bis vor wenigen Jahren ging das noch händisch. Ein Formular vom März 2010 zeigt: Am 7. kein Niederschlag, das erkennt auch der Laie, der Rest ist in Hieroglyphen geschrieben, Codesprache der Niederschlagsmesser, Kreise, Sterne, Dreiecke, Häkchen und Pfeile.

„Was heißt das alles?“, fragte Fröhlich als Junge auch seine Mutter. „Was machst du da?“ Die erklärte geduldig. Dies ist das Symbol für Tau, jenes für Reif. Denn merke erstens: Niederschlag besteht natürlich nicht nur aus Regen. Zweitens: Wer wissen will, wie das Wetter wirklich ist, der darf nicht nur aus dem Fenster schauen, der muss raus, vor die Tür!

Gerade wenn nun bald der Winter kommt und mit ihm womöglich der erste Schnee. Da wird die Messung etwas aufwendiger. Denn wer die Höhe des Neuschnees vermessen möchte, der sollte vorher auch den Boden bereitet haben, sprich: gefegt. Der soll notieren und dem Wetterdienst durchgeben, ob die Schneedecke geschlossen ist (G) oder durchbrochen (D); der soll den Schnee im Behältnis auftauen lassen – zwecks korrekter Bestimmung der Niederschlagsmenge.

Olaf Fröhlich macht all dies. Mit Respekt vor der Natur, die ihn seit Kindertagen umgibt. Die nun am frühen Nachmittag einen Wind durchs Dorf schickt, der ahnen lässt: Da kommt noch was.

„Man sollte das Wetter wichtiger nehmen“, sagt Fröhlich und erklärt, was das für ihn auch bedeutet: „Klimawandel ist ein Fakt.“ Wenn er auch in der Prignitz nicht so offensichtlich zutage tritt. Jedenfalls nicht, was den Niederschlag betrifft. Das meiste Wasser fällt eher im Westen des Landes vom Himmel. Was wiederum unter anderem mit der Nähe zum Atlantik zu tun hat. Dass Niederschläge in letzter Zeit hierzulande stärker werden, liegt an etwas, das Peter Hoffmann, Meteorologe am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), als „schlingernde Tiefs“ bezeichnet. „Die Zugbahnen von Tiefdruckgebieten verändern sich, weil der Westwind schwächer wird. Das wiederum liegt an der stärkeren Erwärmung der Arktis“ – Temperaturkontraste sind der Antrieb für die Winde. So kommt es immer häufiger vor, dass ein Tiefdruckgebiet länger an einer bestimmten Stelle hängt – und sich ausregnet. Möglicherweise nachdem es einen Bogen übers Mittelmeer gemacht und dort Feuchtigkeit aufgesaugt hat. „Ereignisse, die als sogenannte Hundertjährige galten, werden intensiver“, sagt Hoffmann. „Beziehungsweise: Die Abstände zwischen ihnen verkürzen sich.“ Berlin zum Beispiel. Säuft im Sommer ab, wird im Herbst gleich zweimal von Stürmen heimgesucht. Und plötzlich reden wieder alle übers Wetter.

Olaf Fröhlich hingegen fällt es gar nicht leicht, sich an Besonderheiten seiner Niederschlagsmesskarriere zu erinnern. Einen sehr harten Winter in den 60ern; extremer Frost 1996, der Winter, in dem der jüngere seiner beiden Söhne geboren wurde, Wasserleitungen gefroren; ein paar Jahre, in denen sie besonders viele Schneekehrmaschinen nach Berlin verkauften. Der Niederschlag manifestiert sich in Fröhlichs Gedächtnis hauptsächlich in fester Konsistenz. Er lacht. „Ein schöner Frost ist was Gutes.“ Aber sonst ... Die Zusammenfassungen, die der Dienst ihm am Ende eines jeden Jahres schickt, archiviert er nicht. Wozu? Wetter ist. Ob man will oder nicht.

Am Morgen nach dem Herbststurm Xavier misst Olaf Fröhlich eine Regenmenge von 13,4 Litern pro Quadratmeter. Ganz ordentlich.

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