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Interview: „Nur die Spitze des Eisberges“

Der Verein Opferperspektive arbeitet seit 15 Jahren in Brandenburg. Geschäftsführer Marcus Reinert über rechte Gewalt, alltäglichen Rassismus und verharmlosende Behörden

15 Jahre Opferperspektive – wie nötig ist in Brandenburg noch die Beratung von Opfern rechtsextremistischer und rassistischer Gewalt?

Wir haben im vergangenen Jahr 146 Opfer rassistischer Gewalt verzeichnet. Wenn man das mit der Situation zur Gründung der Opferperspektive 1998 vergleicht, sicherlich weniger. Aber die Zahl zeigt, dass es einen Bedarf an Opferberatung nach wie vor gibt und dass dieser Bedarf hoch ist. Wir betreiben seit 2009 auch eine Antidiskriminierungsstelle und beraten Betroffene rassistischer Diskriminierung. Da erfahren wir, wie alltäglich Rassismus ist. Die Gewalttaten sind die Spitze des Eisberges. Sie beruhen auf rassistischen Einstellungen in der Bevölkerung. Das Engagement gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus und daran anknüpfend die Gewaltopferberatung sind immer noch genauso wichtig wie früher. Das zeigen auch die Enthüllungen um den Nationalsozialistischen Untergrund. Auch die Vorfälle am Flüchtlingsheim in Berlin-Hellersdorf zeigen, dass das Problem nach wie vor da ist und man sich nicht zurücklehnen kann.

Die Zahl der Flüchtlinge nimmt zu, auch in Brandenburg. Gibt es hier ähnliche Vorfälle oder Erfahrungen wie in Hellersdorf?

Die NPD hat eine Kampagne gefahren gegen die Flüchtlingen, das tut sie nach wie vor. Es gab vor drei Wochen in Brandenburg einen versuchten Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft, wo zum Glück nichts passiert ist. Man wird schauen müssen, wie sich die Stimmung in den nächsten Monaten entwickelt.

Sie sprachen von 146 Opfern rassistischer Gewalt in Brandenburg, die offiziellen Zahlen der Polizei sind weitaus niedriger ...

nur für das Jahr 2012. Die Polizei zählt in diesem Zeitraum 58.

Wie erklärt sich diese Diskrepanz?

Da gibt es mehrere Erklärungsansätze. Zum ersten muss man sehen, dass die Definitionen bei Polizei und Opferperspektive zwar im Kern gleich sind, aber teilweise auch voneinander abweichen. Wir erfassen Fälle, die bei der Polizei schlicht nicht erfasst werden, weil sie nicht angezeigt worden sind. Wir haben also mit Fällen aus dem Dunkelfeld zu tun. Dann gibt es Fälle, bei denen wir nicht nachvollziehen können, weshalb sie von der Polizei nicht gezählt werden. Wir vermuten, das ist auf Mängel bei der polizeilichen Erfassung zurückzuführen.

 Wie ist denn das Verhältnis zu Behörden, stoßen Sie auf Widerstand?

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt durchaus Polizeibehörden, mit denen wir sehr gut zusammenarbeiten. Wenn wir etwa keinen direkten Kontakt zu dem Opfer haben, reicht die Polizei Informationen über die Opferperspektive weiter. Aber es gibt auch nach wie vor die Erfahrung, dass Polizeibeamte die rechte Motivation von Gewalttätern infrage stellen oder Opfern unterstellen, dass sie selbst schuld seien, dass es zu der Gewalttat gekommen ist. Das passiert nach wie vor.

Haben Sie ein Beispiel?

Im August prügelten in Eisenhüttenstadt NPD-Mitglieder auf Gegendemonstranten ein und schlugen einen jungen Mann krankenhausreif. Im Polizeibericht hieß es: „Bei der Kundgebung kam es zu Rangeleien, als beide Lager aufeinandertrafen.“ Ein Polizeibericht aus Wandlitz über einen Vorfall im Juni ist überschrieben mit „Meinungsverschiedenheit endet in Körperverletzung“. Wer weiterliest, erfährt, die eine Meinung war ein Hitlergruß, den sich der mit der anderen Meinung verbat. Hier zeigt sich, wie alltäglich es ist, was der NSU-Skandal in seiner Grausamkeit offenbart: dass rechte Gewalt immer noch verharmlost, sogar entpolitisiert wird. Ein anderes Beispiel sind die weit mehr als 100 rassistischen Anschläge auf migrantische Imbissbetriebe seit dem Jahr 2000. Fehlten eindeutige Hinweise auf Täter, wurde immer wieder unterstellt, es handele sich um einen Versicherungsbetrug oder die Tat eines Konkurrenten.

Wie hat sich das Verhältnis zu den Behörden denn über die Jahre verändert?

Es fällt uns heute wesentlich leichter, Zugang zu staatlichen Stellen zu bekommen. Es gibt ein größeres Maß an Kommunikation und Austausch. Das war in den Gründungsjahren nicht so. Das Klima hat sich etwa gewandelt in Brandenburg, man steht den Problemen offener gegenüber.

Marcus Reinert, 37, ist Jurist und wohnt in Frankfurt (Oder). Als Geschäftsführer leitet er den Verein Opferperspektive. Dieser hat seinen Sitz in Potsdam-Babelsberg.

Brandenburg hat inzwischen den Ruf, beim Kampf von Staat und Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus im Vergleich zu anderen Bundesländern vorn und fortschrittlich zu sein. Wie ist denn Ihre Diagnose?

Die Antwort ist nicht eindeutig. Vieles ist richtig daran, es hat sich einiges getan in Brandenburg, insbesondere dort, wo die politischen Diskurse geführt werden. Das Problem Rechtsextremismus wird viel stärker wahrgenommen und es wird erkannt, dass man das Problem nicht nur durch repressive Maßnahmen bekämpfen kann, sondern auch auf die Zivilgesellschaft setzen muss. Das ist beispielsweise durch den Gesetzentwurf zur Einführung einer Anti-Rassismusklausel in die Landesverfassung deutlich geworden. Aber in der Bevölkerung sind rassistische und rechte Einstellungsmuster nach wie vor verbreitet. Und wir stoßen in der Alltagsarbeit nach wie vor darauf, dass rechte Gewalt und Rassismus von Behörden nicht wahrgenommen oder verharmlost wird.

Warum wurde die Opferperspektive 1998 eigentlich gegründet?

Da muss man weiter zurückgehen, bis Anfang der 1990er-Jahre, als es diese massive Welle rechter Gewalt im Osten gab. Die Gründer kamen aus einem Berlin-Brandenburger Netzwerk von besetzten Häusern, alternativen Wohn- und Kulturprojekten, von Menschen, die antirassistisch und antifaschistisch aktiv waren und die damals schon probiert haben, eine Gegenposition zur Gewalt und der sich ausbreitenden rechten Szene aufzubauen. Mitte der 90er-Jahre gab es im Hinblick auf die Gewalt eine Phase der relativen Beruhigung. 1996/97 gab es dann zwei spektakuläre Fälle, nämlich die Angriffe auf Noel Martin und Orazio Giamblanco. Da hat sich das Bild von rechter Gewalt ein Stück weit verändert, vor allem durch die Berichterstattung von Frank Jansen im Tagesspiegel und in den PNN, der den Blick darauf richtete, welche Folgen die Gewalt für die Opfer hat. Doch im politischen Diskurs gab es eine absolute Täterzentrierung, die Täter wurden als Wendeverlierer dargestellt.

Nicht zu vergessen die Jugendarbeit ...

... ja, es gab Programme, die sich sehr stark auf die Täter konzentrierten, Stichwort „Glatzenpflege auf Staatskosten“ beziehungsweise akzeptierende Jugendarbeit. In dieser Situation war die Opferperspektive die Antwort darauf: weg von der Perspektive der Täter hin zur Perspektive der Opfer. Die kommen oft aus marginalisierten Gruppen, also Flüchtlinge, Punks, alternative Jugendliche, ihre Perspektive wollten wir in den Mittelpunkt stellen und eine konkrete Unterstützung anbieten. Es konnte aber nicht auf der Ebene der Sozialarbeit stehen bleiben, sondern wir wollten versuchen, in der Zivilgesellschaft einen Gegenpol zu der rechten Gewalt zu organisieren. Das ist ein ganz klarer politischer Anspruch. Jeder Mensch soll sich frei und ohne Angst bewegen können und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Und wir wollten das Ausmaß von rechter Gewalt dokumentieren und analysieren. Das sind nach wie vor Kernpunkte in unserer Arbeit.

Die Opferperspektive hat Vorbildcharakter deutschlandweit, wurde für ihre Pionierarbeit mehrfach ausgezeichnet. Wie kam das zustande?

Im Rahmen des Aufstands der Anständigen wurde im Jahr 2000 ein Bundesprogramm formuliert, die Opferberatung war unter Mitwirkung der Opferperspektive ein Teil davon. Es gab dann Mittel, um Opferberatungsstellen hauptamtlich bezahlt zu organisieren. In der Folgezeit war die Opferperspektive daran beteiligt, Beratungsprojekte in den anderen neuen Bundesländern aufzubauen.

Ein Blick in die Zukunft, wie geht es weiter?

Es geht leider immer darum, dass wir die Arbeit der Opferperspektive absichern müssen. Bei der Opferberatung gehe ich davon aus, dass die Finanzierung dieses und nächstes Jahr abgesichert ist. Dann stehen in Brandenburg Wahlen an, danach muss die neue Regierung entscheiden, wie sie mit „Tolerantes Brandenburg“ umgehen will. Die Antidiskriminierungsberatung, die zum größten Teil aus Mitteln der Integrationsbeauftragten finanziert wird, ist mit zwei halben Stellen ausgestattet, es sind aber die einzigen Stellen im Land, die professionell in diesem Bereich arbeiten. Da müssen wir die Personalausstattung ausbauen.

Das Interview führte Alexander Fröhlich

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