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Viel Hoffnung. Flüchtlingsfamilien warten am Bahnhof in Schönefeld auf die Weiterfahrt zur Unterkunft.

© Patrick Pleul/dpa

Flüchtlinge in Brandenburg: Nur keine Katastrophe

Brandenburgs Behörden sind heillos überfordert, es fehlt Platz und Personal. Über Ministerpräsident Woidke in der Flüchtlingskrise. Eine Analyse.

Potsdam - Es war im Januar, da war der Krieg in Syrien schon vier Jahre im Gange, als Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sich festlegte: In der Mark solle es keine Zeltstädte für Flüchtlinge geben. Jetzt, ein Dreivierteljahr später, ist alles anders. Bis Ende September musste Brandenburg 17200 Flüchtlinge aufnehmen, prognostiziert waren damals 9000 nach 6300 im Vorjahr. Allein im September kamen 7040 Menschen. „Sollte der Zustrom von Asylbewerbern in diesem Maße anhalten, muss das Land in diesem Jahr weit mehr als 30 000 Flüchtlinge aufnehmen“, sagt Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD). Also noch mehr als selbst Woidke vor einigen Wochen sagte – und schon da hatte er die Prognosen für Brandenburg großzügig nach oben korrigiert, um die Brandenburger auf harte Zeiten einzustimmen.

Die Kapazitäten in Brandenburg sind erschöpft

Glaubt man den Behörden im Land und in den Kommunen, ist die Lage katastrophal. Binnen weniger Stunden ändern sich Prognosen, eine Krisensitzung jagt die nächste. Allein für dieses Wochenende sucht das Innenministerium eilig 1300 Plätze für neu ankommende Flüchtlinge, in Frankfurt (Oder) werden die Messehallen als Notquartiere hergerichtet, auch in Cottbus und Brandenburg/Havel soll es weitere Zweigstellen der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in Eisenhüttenstadt geben. Die vorhandenen mehr als 4000 Plätze sind belegt, die Kapazitäten sind erschöpft. Und die Flüchtlinge sollen in den Zelten nicht überwintern, sie brauchen ein festes Dach über dem Kopf.

Die Landkreise und kreisfreien Städte schaffen es kaum, monatlich 4300 Menschen aus Eisenhüttenstadt aufzunehmen, inzwischen werden Schulen und Turnhallen belegt. Und die Schlagzahl müsste sich bei der Verteilung weiter erhöhen. Das wissen alle Beteiligten, denn der Zustrom aus den Kriegsgebieten in Syrien und Afghanistan über die Balkanroute nach Deutschland hält unvermindert an. Das Innenministerium rechnet in den nächsten Wochen vor Einbruch des Winters mit 650 Flüchtlingen täglich, die in Brandenburg ankommen. Innenstaatssekretär Matthias Kahl (SPD) sagt: „Die Lage ist dramatisch und damit untertreibe ich noch ein bisschen.“

Was soll werden?

Tatsächlich sind an jeder Stelle die Ressourcen erschöpft. Den Hilfsorganisationen mit ihren meist ehrenamtlichen Mitarbeitern gehen nach monatelangem Dauereinsatz die Kräfte aus, technisches Hilfswerk und Bundeswehr müssen immer häufiger helfen. Und selbst in der Regierungskoalition weiß eigentlich niemand, was werden soll. Viele fragen sich, warum manches Versprechen auf der politischen Agenda noch mit Stolz auf den eigenen Humanismus vor sich her getragen wird, wo es doch kaum zu halten ist.

Die Reform des Landesaufnahmegesetzes ist so ein Fall. Die Versorgung der Flüchtlinge soll verbessert werden. Dass es für Kommunen künftig nicht nur Geld für den Bau von Asylheimen gibt, sondern auch für Einzelwohnungen als Asylunterkünfte, ist pragmatisch. Aber mehr Sozialarbeiter und einen besseren Betreuungsschlüssel vorzuschreiben erscheint selbst Koalitionären fast illusorisch. Schon jetzt ist es schwer, Sozialpädagogen für den Job zu finden, auch beim Personal für den Wachschutz ist es eng.

Und dann sind da noch die Kinder und Jugendlichen, die ohne Eltern nach Deutschland kommen. Aktuell sind laut Bildungsministerium 3100 Flüchtlingskinder mehr als erwartet gekommen, die auch in den Schulen aufgenommen werden müssen, nicht nur wegen der Schulpflicht, sondern weil Integration am besten gelingt, je früher man anfängt. Der Druck steigt auch hier: Bis Anfang November muss Brandenburg weitere bis zu 1750 unbegleitete Jugendliche aufnehmen. Nun will Brandenburg 240 Lehrer zusätzlich einstellen, um die Flüchtlingskinder unterrichten zu können. Aber es gibt kaum Lehrer, die sofort verfügbar sind, der Markt in Ostdeutschland sei leergefegt, sagt Bildungsstaatssekretär Thomas Drescher. Brandenburg müsse zusätzliche Anreize schaffen, die Verbeamtung winkt ohnehin.

Experten: Man hätte früher handeln müssen

Nur hätte man das nicht alles früher wissen können? Hätte die Landesregierung nicht vorbereitet sein müssen? Die Antwort der Fachleute ist nicht eindeutig: Wissen hätte man es nicht können, jedenfalls nicht in dieser Größenordnung. Aber man hätte früher handeln müssen. Der Vorwurf der Experten auch in der rot-roten Koalition trifft vor allem die Staatskanzlei, es fehle an Führung, heißt es. Erst am 8. September wurde der Koordinierungsstab Asyl eingerichtet, viel zu spät, sagten die Fachleute. Alle Versuche, eine Organisationsstruktur für den Krisenfall zu schaffen, waren über Wochen von der Staatskanzlei mit dem Hinweis abgewehrt worden, dies sei mit Bordmitteln zu schaffen. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang Staatskanzleichef Rudolf Zeeb (SPD) genannt, einst selbst wie sein Chef Woidke im Innenministerium.

Der Ärger ist inzwischen so groß, dass geraunt wird, niemand in der Staatskanzlei traue sich Woidke zu sagen, wie schlimm die Lage wirklich sei. Ins Bild passt da, dass die Staatskanzlei alle Vorstöße, die Messehallen der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung (ILA) am Rande des Flughafens Schönefeld als Notunterkünfte zu nutzen, kategorisch abwehrt. Was sei die ILA gegen das Bild von obdachlosen Flüchtlingen, fragt manch Beamter inzwischen. Einige meinen, es sei längst Zeit, den Katastrophenfall auszurufen. Dann könnten die überforderten Behörden zentral durchgreifen und die Lage auch bewältigen. Doch Woidke wird sich hüten, von einer Katastrophe zu sprechen. Politisch, so heißt es, wäre das zu brisant, nicht nur in Brandenburg, auch in den anderen Bundesländern.

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