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Brandenburg: Das Boot

Vor 15 Jahren verschwanden zwei Kanuten auf dem Rheinsberger See. Ein Unfall? Ein Verbrechen? „Etwas stimmt nicht“, sagt Jörg Ellmann. Und sucht noch immer nach Antworten

Die alte Version hört sich zu einfach an. Das merkt Jörg Ellmann schon damals. Seitdem sucht er nach Fehlern der Ermittler – und nach Antworten auf all die offenen Fragen. 15 Jahre, einen Monat und elf Tage dauert die Suche, dann erstattet Ellmann am 10. Februar 2014 eine Anzeige gegen unbekannt: Verdacht der Strafvereitelung im Amt.

Vor ein paar Tagen, die Sonne knallt, steht Ellmann am Ufer des Großen Rheinsberger Sees im Brandenburger Norden. Ein Unfallort, ein Tatort? Vor mehr als 15 Jahren soll es hier passiert sein: Zwei Paddler durchstoßen mit ihrem Kanu eine Eisdecke, das Boot reißt auf, sinkt, beide ertrinken. So die von den Behörden verbreitete Version.

Ein Jahr lang werden die Leichen der Männer gesucht, gefunden werden sie nicht. Strafvereitelung würde bedeuten, ein Ermittler habe Hinweise auf ein Verbrechen nicht beachtet.

Ellmann hält sich die Hand über die Augen, die Sonne blendet, feiner Schweiß auf seiner Stirn: „Die Geschichte mit dem Boot kann nicht stimmen“, sagt er.

An diesem Sommertag liegt der See spiegelglatt im sattgrünen Laubwald des Naturparks Stechlin-Ruppiner Land. Hier beginnt die Mecklenburger Seenplatte, seit 100 Jahren strömen Wassersportler, Angler und Wanderer aus Berlin in die Region. Unter Kanuten ist es die beliebteste Region Deutschlands.

Auch Jörg Ellmann, 62 Jahre, graue Stoppeln, T-Shirt, Brille, paddelt gern. Drei Boote besitzt er. Südlich von Rheinsberg hat er sich 1994 ein Fachwerkhaus gebaut. In der DDR war er Leichtathlet, jahrelang als Leistungssportler. Ellmann gehörte zu den Entwicklern der Jugendsendung „Elf 99“, die in der DDR zum Kult wurde. Als Sportreporter arbeitete er später für Sat 1, recherchierte zu Doping, Schiebungen, Gerangel hinter den Kulissen des Profisports.

Heute arbeitet Ellmann als Hochschullehrer für TV-Publizistik. Ein hartnäckiger Mann, der nun anderen Hartnäckigkeit beibringt.

Die Geschichte mit dem Boot, die Ellmann zufolge nicht stimmen kann, beginnt am 29. Dezember 1998 in Berlin. Ulrich B., 31, Gewässerökologe, wohnt in Prenzlauer Berg. In jenen Dezembertagen besucht ihn ein Freund: Thomas R., 25 Jahre alt, Student der Geophysik aus Freiberg in Sachsen. Die beiden waren mit Paddelbooten in Nordamerika unterwegs, jetzt wollen sie Silvester in der Natur verbringen. Freunden erzählen sie von einer Tour bis nach Mecklenburg. Mit einem von einem Bekannten geliehenen Faltboot brechen sie am Morgen des 29. Dezember auf: per Taxi zur S-Bahn, dann bis Oranienburg, dort in den Zug nach Rheinsberg, wo die beiden nach 14 Uhr ankommen. Vom Bahnhof aus stiefeln sie durch die Stadt.

Rheinsberg ist nicht nur idyllisch, sondern mit 9000 Einwohnern auch klein, so dass die beiden Spaziergängern auffallen. Selbst in einer Wassersportstadt ziehen im Dezember – es herrschen sechs Grad – nicht alle Tage zwei Männer ein zusammengepacktes Faltboot durch die Straßen.

Anders als andere Paddler bauen sie ihr Kanu am Ufer des Grienericksee direkt am Rheinsberger Schloss auf. Auf dem Rasen dort ist das untersagt, vor allem aber ist es unpraktisch: Das Ufer besteht aus einer hohen Kante.

Nur 150 Meter weiter südlich gibt es eine von den meisten Paddlern genutzte Stelle, an der Boote bequem ins Wasser gelassen werden können. Hier kann man auch – das ist kein Geheimnis – anders als auf dem Schlossrasen ungestört in die Büsche urinieren, bevor man stundenlang im Kanu sitzt. Ellmann fragt: „Wollten die beiden also gesehen werden?“

Gemutmaßt haben das in Rheinsberg damals einige. Zwei erfahrene Kanuten beladen ihr Boot umständlich aber öffentlichkeitswirksam direkt am Schloss? Sicher, es klingt ungewöhnlich, aber nicht vollkommen absurd. „Doch da kommt noch mehr“, sagt Ellmann.

Zunächst ist unstrittig, Ulrich B. und Thomas R. paddeln an jenem Dienstag gegen 15 Uhr los. Vom Grienericksee in einen Kanal, dann in den Rheinsberger See. Kurz bevor es dunkel wird, landen sie wohl auf der Remusinsel. Die ist gut 200 Meter lang, 50 Meter breit und voller Bäume. Die beiden bauen ein Zelt auf, machen Feuer, jedenfalls sieht ein Angler eins vom Ufer.

Am nächsten Morgen sollen die beiden versucht haben, zum Repenter Kanal am Nordufer des Rheinsberger Sees zu paddeln. Und hier, keine 300 Meter vor dem Ufer, soll ihr Boot gesunken sein.

Die Kanutour sollte nur ein paar Tage dauern, nach einer Woche hat sich keiner der beiden gemeldet. Die größte Suche der Brandenburger Kriminalgeschichte beginnt. Die Wasserschutzpolizei fährt den See ab, ein Hubschrauber überfliegt das Areal, Echolote werden eingesetzt, Taucher ziehen durch den See: nichts.

Unter Paddlern – bundesweit soll es zwei Millionen geben, allein im Kanuverband sind 120 000 organisiert – wird noch Jahre später über die Vermissten gesprochen. Auf Zeltplätzen in der Region kursieren Spekulationen: Ertrinken, Flucht, Mord? 

Ellmann spekuliert nicht nur, er sucht nach Antworten. Warum eigentlich?

Ellmann steht, wie man so sagt, mitten im Leben. Er hat drei Söhne, gibt Hochschulkurse in Berlin und Hamburg, ist im Profisport und der Medienbranche gut vernetzt, fährt im Sommer fast täglich eines seiner Kanus. Langeweile also hat Ellmann nicht. „Aber ich lasse mich nicht gern verarschen“, sagt er. „Und ein bisschen journalistische Eitelkeit ist sicher auch dabei. Auch ich bin ein Jäger, auch ich suche Trophäen.“ Sollten seine Recherchen ergeben, dass die Polizei eine Spur neu bewertet, dass der Fall vielleicht neu aufgerollt wird, hätte er einen gewaltigen Unterschied gemacht.

Manchmal nerve ihn, sagt Ellmann, was er so alles zu lesen und hören bekomme. Wie oberflächlich in vielen Redaktionen recherchiert werde, womit sich Medienmacher und Mediennutzer zufrieden gäben. Wie wenig Fragen viele Journalisten heute stellten.

Ellmann selbst fragt vor ein paar Tagen am Ufer des Rheinsberger Sees: Warum wurden keine Spürhunde eingesetzt?

Man habe sich damals, sagt ein Polizeisprecher rückblickend, auf das Wasser konzentriert. Doch 1999 war auch ermittlungstheoretisch eine andere Epoche. DNA-Analysen waren nicht ausgefeilt und die heute eingesetzten Mantrailer-Hunde, die stundenlang einer auch tagealten Spur folgen können, gab es nicht.

Zwei Wochen nach dem Verschwinden findet dann ein Haushund eines Spaziergängers am Nordufer das gekenterte Boot. Dort wurde auch Gepäck angespült. Und vier Dokumente: die Kreditkarte, die Krankenkassenkarte, die Bahnkarte und der Personalausweis von Thomas R.. Diese Dokumente befanden sich nicht etwa in einem Portemonnaie, sondern lagen wie drapiert am Ufer.

Ellmann sagt, er finde den öffentlichkeitswirksamen Aufbau des Bootes vor dem Schloss „zumindest merkwürdig“. Und die gefundenen Karten von R. auch. Doch vor allem ärgert ihn die vorherrschende These, das Boot sei durch Eis aufgeschlitzt worden und gesunken.

Fest steht: In der Nacht zum 30. Dezember 1998 zieht Frost eine zarte Eisschicht über den See, einen Zentimeter dick. Als B. und R. an jenem Morgen in den See stechen, erklärt ein Sprecher der Wasserschutzpolizei damals, sei ihr Faltboot wahrscheinlich eingerissen.

Nachdem das Boot gefunden wird, bemerkt die Polizei auf beiden Seiten etwa 20 Zentimeter lange Schlitze. Die Bootshaut um die Schlitze schneiden die Ermittler heraus und bringen sie ins Labor. Dabei hat wohl keine Rolle gespielt, dass sich die Schlitze in völlig unterschiedlicher Höhe an der Außenwand des Kanus befunden haben. Einer ist fast doppelt so tief am Kiel, das Boot hätte in Schräglage durch das Eis rasen müssen, um derart schief aufgeschlitzt zu werden.

Ellmann geht davon aus, dass das Boot nicht einfach gesunken ist. Er hält sich mit Mutmaßungen darüber zurück, was stattdessen passiert sein könnte, aber er sagt: „Einen Unfall wegen des Eises hat es mit diesem Kanu nie gegeben.“

Das Kanu ist ein in der DDR hergestelltes Boot vom Typ „RZ 85“. Wen immer man unter Paddlern fragt, spricht über das RZ 85, als wäre es die Kalaschnikow unter den Faltbooten. Einfach konstruiert, stabil, mit einer „unkaputtbaren Elefantenhaut“, heißt es in Outdoor-Foren.

Und Ellmann will beweisen, dass diese siebenfach geklebte Außenhaut tatsächlich unkaputtbar ist. Mit einem Berliner Bootshändler stellt er die Fahrt der vermissten Kanuten im RZ 85 nach. Dafür warten die beiden auf Blitzfrost.

Am 9. März 2013 ist der Rheinsberger See wieder mit einer knapp einen Zentimeter starken Eisschicht überzogen – so wie am Morgen des 30. Dezember 1998. Ellmann bringt an einem RZ 85 spezielle Kameras an, er und der Bootshändler paddeln los. Das Eis splittert, das Boot bahnt sich fast ungestört seinen Weg. Auf den Filmaufnahmen der Testtour ist zu sehen: Die Außenhaut übersteht die Fahrt unbeschädigt, nicht ein Kratzer.

Die beiden Kanuexperten machen weiter. In einer Schwimmhalle lassen sie ein RZ 85 ins Schwimmbecken und schütten 100 Liter Wasser in das Boot. Dann steigen sie selbst in das vollgelaufene Kanu – und paddeln schwerfällig aber sicher durch die Schwimmhalle. Das Boot sinkt einfach nicht. Hat das Kanu damals also jemand zum Sinken gebracht?

Eine Frau aus Warenthin, heißt es in der Polizeiakte, gibt damals an: Noch am Abend des 29. Dezembers habe sie in der Dunkelheit einen bewegten Lichtschein, vermutlich eine Taschenlampe, am Nordufer des Sees gesehen. Dort wo das Boot später gefunden wird.

Haben die beiden Kauten vielleicht gar nicht auf der Insel übernachtet – und sind sie am Nordufer jemandem in die Quere gekommen? Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass in Brandenburg in den 1990ern Menschen angegriffen wurden, weil sie für fremd, alternativ oder beides gehalten wurden. Oder haben sich die beiden Freunde gestritten? Ist einer der beiden danach abgehauen?

Einige mutmaßen, die beiden wollten nach einem gestellten Unfall in ein neues Leben fliehen. Doch würden zwei Söhne 15 Jahre lang ihre Eltern im Ungewissen lassen? Oder sie haben sich gemeldet – und die Polizei weiß es nicht?

Weil bei vermissten Erwachsenen nicht zwangsläufig von Verbrechen ausgegangen wird, sind die Telefone der Familien B. und R. nicht angezapft worden. Wo die Familien heute leben, weiß Ellmann nicht, und im einstigen Wohnhaus von Ulrich B. ist heute niemand mehr aufzutreiben, der ihn kannte.

Und nun? Ein Polizist aus der Region sagt: Die beiden Männer liegen noch im Rheinsberger See. Ein Berliner Kanute sagt: Die liegen nicht im Rheinsberger See. Jörg Ellmann sagt: Die Polizei muss neu anfangen.

Der letzte Sachbearbeiter des Falls aber ist vor acht Jahren in den Ruhestand gegangen. Die Akte gibt es nicht als Computerdatei, nur als Blattsammlung in Pappordnern. Ellmann hat sich die Akten zeigen lassen. Auf Seite 78 entdeckt er die Stellungnahme einer Sachverständigen und darin den Satz: „Für eine Verursachung der Durchtrennung durch Eisschollen gibt es keine Anhaltspunkte.“

Der Satz ist 15 Jahre alt. Doch die Testfahrt mit dem RZ 85 passt so gut dazu, dass man ihn beim Landeskriminalamt nun vielleicht mit anderen Augen liest: Man prüfe, teilt die Polizei, ob sich Ermittlungen wegen Strafvereitelung lohnen würden.

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