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Lange Wege. Auch nach der Suspendierung eines Pflegers, der ein Mädchen sexuell missbraucht haben soll, kommt die Klinik nicht zur Ruhe. Ein weiteres mutmaßliches Opfer hat sich jetzt einen Rechtsanwalt genommen.

© dapd/Soeder

Brandenburg: Aufklärungsversuch nach fünf Jahren

Missbrauchsverdacht in der Charité: Weiteres mutmaßliches Opfer will Strafanzeige gegen Pfleger stellen

Von Sandra Dassler

Berlin - Nachdem vor vier Wochen bekannt geworden war, dass ein Pfleger ein 16-jähriges Mädchen im Virchow-Klinikum der Charité sexuell missbraucht haben soll, hat sich ein weiteres mutmaßliches Opfer gemeldet. Das sagte Rechtsanwalt Jens-Uwe Thümer aus Lüneburg dieser Zeitung. „Meine Mandantin, die jetzt Anfang 20 ist und noch in dieser Woche Strafanzeige stellen wird, ist ihren Aussagen zufolge vor etwa fünf Jahren auf der gleichen Station im Virchow-Klinikum von demselben Pfleger missbraucht worden“, sagte der aus Berlin stammende Jurist: „Auch sie hat sich damals ihren Eltern anvertraut, die wiederum die Klinik informierten.“

Wie im aktuellen Fall der 16-Jährigen hätten die Eltern sich damals an die Charité gewandt, doch auch da habe man abgewiegelt: Das Mädchen hätte schließlich unter Medikamenten gestanden und sei deshalb wohl einer Täuschung zum Opfer gefallen, hieß es. Die Eltern hätten ihrer Tochter nach langer Abwägung geraten, keine Strafanzeige zu stellen, sagte Rechtsanwalt Thümer: „Sie wollten ihr das peinliche Befragen ersparen, das Erörtern der Details. Sie dachten wohl auch, dass sie gegen die Klinik ohnehin nicht ankommen und ihre Tochter am Ende als Lügnerin dasteht.“

Erst angesichts des aktuellen Falls habe das damalige Opfer entschieden, noch Strafanzeige zu erstatten. „Sie hat aus den Medien erfahren, dass es die gleiche Station und – dem Alter nach zu urteilen – wohl auch derselbe Pfleger war“, sagte Rechtsanwalt Thümer: „Sie war entsetzt, dass dieser Mann immer noch da ist und dass man auch im aktuellen Fall die Glaubwürdigkeit des Opfers anzweifelt.“

Wie berichtet hat das jetzige mutmaßliche Opfer nicht auf die Ladungen der Staatsanwaltschaft zur Vernehmung reagiert beziehungsweise ist zu Terminen nicht erschienen. Manche werten das bereits als ein Indiz dafür, dass die 16-Jährige gelogen hat. Aber warum sollte sie dies tun, fragt Dorothea Zimmermann vom Verein Wildwasser, der Mädchen und junge Frauen bei sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt berät: „Es hätte ihr keinerlei Vorteil gebracht.“

Außerdem erlebe sie immer wieder, wie gerade Teenager bei Gerichtsverhandlungen von ausgebufften Anwälten der Täter völlig verunsichert und beschämt würden. „Eine 16-Jährige empfindet es nun mal als peinlich, wenn sie gefragt wird, wie oft sie Geschlechtsverkehr hat. Und nur allzu oft wird den Opfern eingeredet, dass sie selbst irgendwie (mit-)schuld seien. Was natürlich absoluter Blödsinn ist.“

Auch die kürzlich in die Öffentlichkeit lancierte Behauptung, wonach das mutmaßliche Opfer vor zwei Jahren jemanden des sexuellen Missbrauchs bezichtigt habe und sich dies nicht beweisen ließ, spreche nicht gegen die 16-Jährige. „Gerade wenn das Mädchen schon einmal die Erfahrung gemacht hat, dass man ihm nicht glaubt, wird es nicht aussagen wollen“, sagt Dorothea Zimmermann.

Genau aus diesem Grund wird sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sehr oft nicht angezeigt, sagt Lutz Goldbeck, der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Ulm. „Das hat oft mit Scham zu tun und mit der Angst, dass einem nicht geglaubt wird. Und gerade gegenüber Missbrauchsopfern ist es eine typische Strategie, ihre Glaubwürdigkeit infrage zu stellen.“

Jugendliche seien zudem in vielfältigen Abhängigkeitsverhältnissen und müssten gegebenenfalls auch auf Eltern Rücksicht nehmen. „Deshalb zeigen sie oftmals die Taten erst an, wenn sie erwachsen sind“, sagt Goldbeck: „Aber es ist schon verwegen, aus der Tatsache, dass ein junges Mädchen nicht aussagen will, den Schluss zu ziehen, sie habe gelogen.“

Zumal der Pfleger nicht zum ersten Mal beschuldigt worden sein soll. Charité-Chef Max Karl Einhäupl hatte nach Bekanntwerden der Vorwürfe jedenfalls selbst berichtet, dass der inzwischen vom Dienst suspendierte 58-Jährige bereits in der Vergangenheit im Verdacht gestanden hatte, sich auffällig zu verhalten: Im vergangenen Jahr hatte eine Patientin Anzeige erstattet, die Ermittlungen wurden jedoch eingestellt. Auch 2009 und 2005 soll es Vorwürfe gegeben haben.

Weil der Pfleger dennoch auf der gleichen Station blieb, hat Rechtsanwalt Jens-Uwe Thümer vor zwei Wochen gegen Charité-Chef Einhäupl, den Vorstand, die Pflegedienstleitung sowie Kollegen des mutmaßlichen Täters Strafanzeige wegen Beihilfe zu einem Sexualdelikt gestellt. Aus einem Zeitungsbericht darüber kannte die junge Frau, die jetzt Anzeige gegen den Pfleger erstatten will, seinen Namen, sagt der Rechtsanwalt. Und habe ihn gebeten, ihren Fall, der noch nicht verjährt sei, zu übernehmen.

„Wenn tatsächlich Anzeige erstattet wird, werden wir den Fall natürlich prüfen und gegebenenfalls ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen den Pfleger einleiten“, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner. Was das bereits laufende Verfahren anbelangt, so gibt es seinen Aussagen zufolge nichts Neues. Man könne das mutmaßliche Opfer nicht zur Aussage zwingen und dazu sei sie offenbar nicht bereit.

Der Anwalt des Pflegers, Matthias Böhm, sagt, dass sein Mandant weiter den sexuellen Missbrauch bestreitet. Man habe deshalb bereits am 5. Dezember bei der Staatsanwaltschaft beantragt, das Verfahren einzustellen. „Von weiteren Vorwürfen wissen wir nichts“, sagt er: „Wenn es eine neue Strafanzeige gibt, müssen wir sehen.“ (mit kög)

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