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Ein Kind balanciert auf einem Gymnastikball.

© Thomas Kierok

Zirkustherapie für Berliner Kinder: Konzentration auf der Kugel

Der Kinderzirkus Cabuwazi ist eine Berliner Institution. An einem der sechs Standorte gibt es jetzt auch ein Therapiekonzept für Kinder mit psychischen Auffälligkeiten.

Von Charlotte Aebischer

Vier Kinder sitzen inmitten eines Stapels aus Schaumstoffblöcken auf einer großen Matte. Es geht gerade um die „Gefühlsampel“. Jedes Kind hat sich – je nach Laune – ein oder mehrere rote, gelbe oder grüne Tücher ausgesucht. Jetzt erzählen alle von Ereignissen der letzten Woche – und bringen sie in Verbindung mit der ausgewählten Farbe. Eines der Kinder hat ein rotes Tuch ausgewählt: Es habe Bauchschmerzen. Die Kinder diskutieren ausgiebig darüber. Kollektivdiagnose: Um Seitenstechen handle es sich auf keinen Fall. Das verschwinde bekannterweise nach ein paar Minuten schon. Plötzlich rennt eins der Kinder zum Fenster: „Guck mal, es schneit“. Gelassen gehen die zwei Erwachsenen im Raum darauf ein. Dass dadurch die Übung unterbrochen wurde, spielt keine Rolle.

Selbstbewusstsein und Freude an der Bewegung

Hier im Therapieraum von Britta Niehaus, ehemalige langjährige Leiterin des Cabuwazi-Standorts Treptow, findet gerade eine Zirkustherapie-Sitzung statt. Ein einmaliges Konzept in Deutschland, denn die approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin ist Gründerin des ersten Instituts für Zirkustherapie. Die Idee ist einfach: mit psychisch auffälligen Kindern Therapie mit „Zirkus machen“ zu mischen. Da Wutprobleme, ADHS, und sogar mit Depressionen.

Als solches repräsentiert Zirkustherapie nur einen kleinen Anteil dessen, was der Kinderzirkus Cabuwazi zu bieten hat. An mittlerweile sechs unterschiedlichen Standorten in Berlin können Kinder und Jugendliche jeden Alters sich an über 20 unterschiedlichen artistischen Disziplinen ausprobieren.

Durch die Zirkustherapie, sagt Niehaus, lernten die Kinder, Gefühle zuzuordnen. Gerade bei Kindern mit psychischen Störungen sei dieses Bewusstsein zentral, um mit den Emotionen anders umgehen zu können. Doch auch Freude an der Bewegung wolle sie durch die Zirkustherapie vermitteln – als Kontrast zum Sportunterricht in der Schule. Zu oft sei dieser leistungsorientiert und schambehaftet, wodurch bei Kindern eine Art Bewegungsangst entstehe.

„Es geht um die Zusammenführung von Körper und Geist“, sagt Niehaus weiter. Oft sei es einfacher auf der körperlichen als auf der kognitiven Ebene einen Zugang zu Kindern zu finden. Sie verdeutlicht das an einem Beispiel mit einer zwischen knie- und hüfthohen roten Zirkuskugel. Diese Kugel sei bei Kindern mit ADHS, die sich oft nicht entscheiden könnten, welches Geräusch entscheidend sei, sehr beliebt. Denn, um am Ende darauf stehen zu können, müsse man in der Lage sein, sich vollkommen auf sich selbst zu konzentrieren.

Gefühle erkennen

Bei der Zirkustherapiestunde heute ist neben Niehaus auch Lennard Dzudzek, Zirkusartist und -pädagoge, dabei. Sie übernimmt den psychotherapeutischen Teil der Therapie, er den Zirkusanteil. Denn Ziel einer jeder Gruppe bei Cabuwazi, ob Zirkustherapie oder einfaches Training, sei es, eine Aufführung vorzubereiten. Die heutige Gruppe will nächste Woche den Eltern das Erlernte zeigen.

Doch bevor die Generalprobe drankommt, stehen Spiele auf dem Programm, in denen es auch darum geht, dass die Kinder lernen, ihre Gefühle und die anderer besser einzuordnen.

Sport ohne Leistungsdruck

Druck bauen Niehaus und Dzudzek zu keinem Zeitpunkt auf – im Gegenteil. Eines der Kinder hat Zweifel, ob es wirklich vor den Eltern die Aufführung machen will. Niehaus antwortet, das Kind solle heute doch einfach mal schauen, wie es läuft. Nächste Woche könne man auch noch entscheiden.

Das Kind ist überzeugt und schreitet mit einem freudigen Gesichtsausdruck gemeinsam mit den anderen Kindern auf die Bühne. Es folgen ein paar Kunststücke mit dem Tanzband, bevor die rote Kugel hervorgeholt wird. Erst springt, dann rollt ein Kind nach dem anderen darüber. Nun kommt das große Finale. Während zwei Kinder die Kugel festhalten, stellt sich ein drittes darauf. Alle kommen einmal dran.

Den Kindern merkt man den Stolz über die erbrachte Leistung an. Niehaus beweist ihre Erfahrung im Umgang mit den Kindern, indem sie sie innerhalb kürzester Zeit wieder zur Ruhe bringt. Alle legen sich hin und die Lichter werden gedimmt. Die 90-Minuten werden mit einer Art Meditation abgeschlossen, in der die Kinder in Gedanken einen Raum der Freude betreten.

Wie wichtig dieses Angebot gerade jetzt ist, das betont Niehaus immer wieder. Die Pandemie habe bei Kindern zu einer Vermehrung psychischer Störungen geführt. Seien vor der Pandemie etwa 20 Prozent aller Kinder davon betroffen gewesen, seien es nun über 30 Prozent. Deshalb werden Therapiemöglichkeiten gebraucht. „Es gibt einen Riesenbedarf“, sagt Niehaus.

Das merke man im Übrigen auch daran, dass schon 40 Kinder auf der Warteliste stünden. Umso wichtiger sei es, dass das Angebot verstetigt werde, sodass sie es aufrechterhalten können. Vorerst sei das zirkustherapeutische Projekt nämlich nur für drei Jahre finanziert worden – quasi als Pilotprojekt.

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