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Nach Hannover ist Berlin die zweite deutsche Stadt, in der die App getestet wird. Weitere Bundesländer sollen demnächst folgen.

© imago images / Westend61/Joseffson

Unterstützung bei häuslicher Gewalt: Betroffene in Berlin testen neue App

Betroffene von häuslicher Gewalt können in Berlin eine neue, geschützte App nutzen. Die Erfinderin Stefanie Knaab über die Funktion der App und welche Probleme noch ungelöst sind.

Von Lara Hankeln

Jede vierte Frau in Deutschland wird im Laufe ihres Lebens Opfer von häuslicher Gewalt. Im Jahr 2022 gab es bundesweit insgesamt 240.547 Fälle, 71,1 Prozent der Betroffenen waren Frauen. Allerdings ist die Dunkelziffer groß, die genaue Zahl schwer einzuschätzen.

Um Frauen in diesen Situationen zu helfen, ist in Berlin ein Pilotprojekt für eine neue geschützte App gestartet. Darüber, wie die App aussieht und wie genau sie verteilt wird, soll nichts bekannt werden – zum Schutz der Betroffenen.

Die App ist für kontrollierende Partner nicht erkennbar

Was unterscheidet die App von bisherigen Hilfsangeboten? Sie bietet Informationen rund um die Uhr, kann von Betroffenen nach ihren eigenen Bedürfnissen genutzt werden und ist auf dem Handy nicht als Hilfeapp erkennbar.

„Leider nutzen nur wenige Frauen die bestehenden Angebote wie das ‚Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen‘. Einer der vielen Gründe ist das große Stigma beim Thema häusliche Gewalt und dass viele Frauen lange gar nicht realisieren, dass sie betroffen sind“, sagt Stefanie Knaab, die Initiatorin des App-Projektes. Die App soll eine Brücke zu diesen Angeboten bilden und die Frauen ermutigen, Hilfe zu suchen. In enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Senatsverwaltungen wird die App in Berlin an Betroffene verteilt.


In der App werden Fragen beantwortet, die viele Betroffene sich stellen:

  • Wie sieht das Leben im Frauenhaus aus?
  • Verliere ich meinen Aufenthaltsstatus, wenn ich mich von meinem Partner trenne?
  • Wer bekommt das Sorgerecht für gemeinsame Kinder?

Um das Risiko beim Benutzen der App so klein wie möglich zu halten, kann man sofort in einen geschützten Modus wechseln. Der Schutz der Betroffenen ist auch ein Grund, warum die App nur für Frauen und nicht-binäre Personen ausgelegt ist. Es gäbe die Gefahr, dass Informationen über die App an Täter gelangen; außerdem sei es auch eine Frage der Expertise, sagt Knaab. „Meine Expertise ist Gewalt gegen Frauen. Die Dynamiken bei Gewalt gegen Männer sind anders. Aber unser Team würde eine Initiative, die sich an Männer richtet, natürlich unterstützen.“

„Das ist nicht romantisch“

Damit die Betroffenen realisieren, was ihnen passiert, soll ein in die App integriertes Gewalttagebuch helfen. „Es ist erstmal ein großer Schritt, den Begriff häusliche Gewalt mit sich selbst in Verbindung zu bringen“, erklärt Knaab. Es gibt viele verschiedene Aspekte von häuslicher Gewalt, die manchmal schwieriger zu benennen sind als körperliche Gewalt: psychische, wirtschaftliche, soziale, sexualisierte und digitale Gewalt.


1 Soziale Gewalt

Soziale Gewalt äußert sich zum Beispiel darin, dass der Partner die Betroffene davon abhält, sich mit Freund:innen oder Familie zu treffen. „Das mag erstmal romantisch klingen – nach dem Motto ‚niemand versteht dich so wie ich‘, ist es aber nicht. Eine soziale Isolierung kann in einer Gewaltspirale enden“, sagt Knaab.

2 Psychische Gewalt

Psychische Gewalt umfasst andauernde Degradierungen und Beleidigungen. Dazu zählen auch wiederkehrende Aussagen wie: „Als wir zusammengekommen sind, sahst du besser aus.“ Gaslighting – also die bewusste Verunsicherung der anderen Person – ist eine weitere Form psychischer Gewalt.

3 Wirtschaftliche Gewalt

Wirtschaftliche Gewalt entsteht häufig in Situationen finanzieller Abhängigkeit. Wenn jegliche Ausgaben vom Partner überprüft und dann gerechtfertigt werden müssen, kann das kontrollierend und gewaltvoll sein. „Eine andere Ausprägung ist das Verschulden auf Kosten der Partnerin, also große Investitionen wie ein Auto auf ihren Namen zu tätigen“, sagt Knaab.

4 Sexualisierte Gewalt

Sexualisierte Gewalt umfasst Vergewaltigungen, sexuelle Nötigung, aber auch die Drohung Nacktbilder zu veröffentlichen.

5 Digitale Gewalt

Nacktbilder zu veröffentlichen oder damit zu drohen, ist eine Form der digitalen Gewalt. Dazu zählt auch eine Überwachung durch den Partner, wenn beispielsweise immer der Standort oder die besuchten Webseiten kontrolliert werden.


All diese Arten von Gewalt können sehr subtil sein. „Da versuchen wir mit der App aufzuklären: Was ist eine Grenzüberschreitung und was nicht?“, sagt Knaab. Zitate von Betroffenen, die von ihren Erfahrungen mit den verschiedenen Formen von Gewalt berichten, geben den Nutzerinnen der App das Gefühl, dass sie nicht alleine sind in ihrer Situation.

Vom Frauenhaus wegen fehlender Plätze abgewiesen

Natürlich löst die App nicht die strukturellen Probleme rund um das Thema häusliche Gewalt. „Es erfordert so viel Mut, sich an jemanden zu wenden“, sagt Knaab. „Man stelle sich vor, eine Frau fasst den Entschluss ihre Sachen zu packen, in einer völlig überfordernden und dramatischen Situation. Vielleicht hat sie noch ihre Kinder dabei. Und dann gibt es keinen Platz im Frauenhaus. Was bleibt der Frau dann noch als Option? Geld für ein Hotel haben die meisten nicht. Zur eigenen Familie gehen? Aber der Partner weiß, wo die Familie wohnt. Dann geht man zurück in die Wohnung.“ Für Knaab ist es schockierend, dass die Situation in Deutschland seit Jahren so schlecht ist.

Stefanie Knaab ist Gründerin des Vereins „Gewaltfrei in die Zukunft“, der die App initiiert hat.

© Lisa Schulz /@itsleecee

„Es fehlen mehrere tausend Frauenhausplätze. Aktuell werden Frauen abgelehnt, weil es keine freien Plätze gibt. Da muss die Politik mehr Geld in die Hand nehmen und neue Frauenhäuser bauen“, sagt sie. Der Europarat hatte Deutschland 2022 gerügt aufgrund der unzureichenden Maßnahmen bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Neben Frauenhausplätzen mangelt es auch an Beratungsstellen, gerade im ländlichen Raum.

Wenn es keinen Platz im Frauenhaus gibt, was bleibt der Frau dann noch als Option?

Stefanie Knaab, Initiatorin der App und Gründerin des Vereins „Gewaltfrei in die Zukunft“

Auch bei der Justiz gibt es noch große Hürden für Frauen, die gegen häusliche Gewalt vorgehen wollen. „Aktuell werden 85 Prozent der Verfahren zum Thema häusliche Gewalt eingestellt, unter anderem wegen fehlender Beweise“, beklagt Knaab. „Sexualisierte Gewalt in der Partnerschaft, das ist so gut wie unmöglich zu beweisen. Es gibt schließlich keine Zeuginnen.“ Dabei soll die Dokumentationsfunktion der App helfen: Gesichert und verschlüsselt können Fotos und Beschreibungen von Gewalt gespeichert und später vor Gericht verwendet werden.

Als Vorreiter sieht Knaab Spanien, wo es schon seit 2004 ein Gesetz gegen häusliche Gewalt gibt und die Anzahl der Femizide durch weitere Maßnahmen in den letzten Jahren gesunken ist. „Aber Femizide sind nur die Spitze des Eisberges der Gewalt“, sagt sie.

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