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Historische Postkarten: Frankierte Grüße aus Alt-Berlin

Eine Sammlung historischer Postkarten entführt in die späte Kaiserzeit. Zeppelin, Hofapotheke, Bolle-Milchwagen, Leierkastenmann. Einblicke in die Sozialgeschichte des Berlins vergangener Tage.

Der Leierkastenmann verkörpert wie kein anderer das Klischee des idyllischen Alt-Berlin, ziemlich angestaubt, aber doch gemütlich. Vor gut einem Jahrhundert sah man das nüchterner: Der Leierkastenmann? „Die Musik der armen Leute“. So steht es jedenfalls auf einer Postkarte mit dem Motiv solch eines Straßenmusikanten – Teil einer Sammlung von 48 Karten aus dem Berlin der späten Kaiserzeit, die der Hamburger Fotograf und Sammler Werner Bokelberg jetzt aus seinem Fundus historischer Ansichtskarten herausgegeben hat und über den Buchhandel vertreibt.

Solche Grüße aus der Ferne waren kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert in Deutschland ungemein populär geworden. Ein begeisterter Schreiber war etwa Karl May, überliefert ist auch eine Karte aus Berlin mit dem Gendarmenmarkt, die er im Februar 1897 der Familie eines Deidesheimer Weingutbesitzers schickte.

Die in einer Weißblechbox vereinten Karten des Hamburger Sammlers aber verraten weder Absender noch Adressaten, von einer gewissen Suzanne abgesehen, offenbar einer jungen Französin, die unter eine leicht kolorierte Winterszene mit Lustgarten und Schloss eine kleine Anmerkung in ihrer Sprache kritzelte: „Suzanne und ihre Freundinnen bereiten sich auf die Schlacht vor“. Kurz danach dürfte es Schneebälle gehagelt haben.

Die faksimilierten Postkarten wurden vom Herausgeber nicht erläutert, dem Betrachter bleiben nur die spärlichen Originalhinweise. Es bedarf also teilweise einer gewissen, zumal historisch fundierten Ortskenntnis, um die Motive korrekt zu identifizieren. Längst ist beispielsweise die Börse an der Burgstraße in Mitte verschwunden, ebenso der Rundbau des Circus Busch, der auf einer Karte im Hintergrund zu sehen ist. Von der abgerissenen Kaiser-Wilhelm-Brücke, hinter der noch die Hofapotheke des Stadtschlosses zu sehen ist, ganz zu schweigen. Heute befindet sich dort die schlichte Liebknechtbrücke.

Die Ansichtskarten – einige mit gestempelter 5-Pfennig-Marke, Motiv „Germania“, frankiert, seltsamerweise auf der Bildseite – haben nicht nur architekturgeschichtlichen Reiz. Sie bieten oft mehr als vertraute oder längst entschwundene Hauptstadt-Pracht, sind auch Dokumente von Berlins Verkehrsgeschichte, so das Gewirr aus Brücken, Gleisen und Schloten am Gleisdreieck oder das Durcheinander aus Straßenbahnen, Autos, Pferdefuhrwerken und Fußgängern am Potsdamer Platz. Und sie geben Einblicke in die Sozialgeschichte, auf den Leierkastenmann eben, einen Verkaufswagen der Meierei Bolle, auf Ballon- und Würstchenverkäufer, eine mit Tröten, Pappnasen und Pseudo-Orden geschmückte Festgesellschaft in einer Silvesternacht, Badefreuden im Familienbad Wannsee oder einen Trupp Arbeiter beim Teeren der Straße.

Auch zwei Luftschiffe sind zu sehen, damals die modernste Art der Fortbewegung, bei deren fotografischer Dokumentation die Bildkünstler offenkundig gemogelt und aus zwei Fotos jeweils eines komponiert haben. Wären die gasgefüllten Monster wirklich so tief über der Stadt aufgetaucht, wie die Fotos suggerieren, wären wohl alle in Deckung gegangen, statt nur ungerührt die Straße entlangzugehen.

„Berlin – Unser Berlin vor 100 Jahren. 48 sensationelle historische Postkarten“. Bokelberg.com, Hamburg. Die Box mit den Postkarten gibt es für 19,90 Euro auch im Tagesspiegel-Shop, Askanischer Platz 3, Tel. 29021-520, www.tagesspiegel.de/shop

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