zum Hauptinhalt

© imago/Kirchner-Media

„Es hat ein Netzwerk gegeben“: Missbrauch durch so genanntes Kentler-Experiment reichte weit über Berlin hinaus

Viele Personen haben die so genannten Experimente des Sexualforschers Kentler, bei dem Minderjährige missbraucht wurden, ermöglicht. Das ergibt ein Forschungsbericht.

Die Wissenschaftlerin Carolin Oppermann von der Universität Hildesheim redet nur von „der Person“, als sie am Montag deren Schicksal schildert. Männlich? Weiblich? Keine Auskunft, der Datenschutz, Sie verstehen. Klar ist allerdings, dass die Person minderjährig war, als sie in den 1970er Jahren in Berlin in der Wohnung von Helmut Kentler lebte. Geduldet vom Landesjugendamt, eine Alternative zur eigenen Familie der Person. Die Familie steckte in einer prekären Situation.

Eine schreckliche Alternative. Denn damit war die Person direkt im Einfluss des damals renommierten Sexualforschers Kentler, der Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen zu pädaosexuellen Pflegepersonen vermittelte. Die Jugendämter, die offiziell die Anordnung trafen, vertrauten dem Wissenschaftler, der damals als Star der Sexualforschung galt. Die Jugendlichen sollten von den Pädosexuellen sozial aufgefangen werden.

Es hat ein Netzwerk gegeben, das Übergriffe ermöglicht hat.

Projektteam der Universität Hildesheim

Kontrolle der Verhältnisse? So gut wie nie. Die Jugendlichen, fatale Folge, wurden sexuell missbraucht. Auch die Person, so schilderte sie es, sei missbraucht worden: von Kentler persönlich. Und andere minderjährige Mitbewohner ebenfalls.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

In zwei wissenschaftlichen Forschungsarbeiten wurden Kentlers unsägliche, so genannten Experimente von den 1970er Jahren bis Anfang 2000 und die Mitverantwortung des Landesjugendamts bereits analysiert. Am Montag hat ein Projektteam der Universität Hildesheim bei einer Pressekonferenz der Senatsbildungsverwaltung den dritten Zwischenbericht vorgestellt. Die Bildungsverwaltung hat ihn initiiert. Er bezieht sich auf ganz Deutschland.

Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) sagte bei der Vorstellung: „Der Bericht zeigt, wie komplex die Strukturen sind. Umso wichtiger ist es hier, die Aufarbeitung weiter voranzutreiben.“

Die Wissenschaftler haben vor allem die Frage untersucht: Wie eng war das bundesweite Netzwerk, das Kentler geschützt hat und mit dessen Hilfe er Jugendliche in ganz Deutschland sexuellem Missbrauch auslieferte?

1150 Akten der Bildungsverwaltung wurden untersucht

1150 Akten der Bildungsverwaltung haben die Experten untersucht, 30 Fallakten haben sie genauer unter die Lupe genommen, zwei damals Betroffene haben persönlich über ihre schrecklichen Erlebnisse gesprochen.

Die Wissenschaftler stellten fest, „dass ein Netzwerk von Akteuren und Akteurinnen existierte, die direkt oder indirekt Konstellationen mit geschaffen hat, durch die sexualisierte Übergriffe ermöglicht wurden.“ Und es habe Menschen gegeben, die von diesen Übergriffen gewusst, aber diese nicht angezeigt hätten.

Beim so genannten Kentler-Experiment wurden Jugendliche zur Resozialisation zu pädophilen Pflegevätern geschickt.

© Julian Stratenschulte/dpa

Zentraler Akteur sei zwar das Landesjugendamt in Berlin gewesen, „jedoch sind vielfältige Akteure und Akteurinnen auch über Berlin hinaus am Hilfeverlauf beteiligt. So lassen sich zum Beispiel Unterbringungen in den Martin-Bonhoeffer-Häusern in Tübingen (...) nachweisen.“

Es falle auf, schreiben die Forscher, dass sich alleinstehende Männer aus West-Deutschland junge Menschen aus Berlin, besonders aus dem Haus Tegeler See „ausgesucht“ und zu sich „in Pflege oder Sonderpflege“ genommen hätten. „Dies war möglich gewesen, da persönliche Netzwerke durch die unterschiedlichen Institutionen bestanden.“

Die lokalen Jugendämter spielten eine zumindest diffuse Rolle

Die jeweils zuständigen lokalen Jugendämter im Bundesgebiet hätten zumindest eine diffuse Rolle gespielt, sie hätten sich in ihrer Zuständigkeit nicht klar positioniert, steht in dem Zwischenbericht. Sie hätten das Landesjugendamt Berlin um Bestätigung der von ihnen erteilten Pflegeerlaubnis gebeten.

Dieses Landesjugendamt habe „seine Rolle als pädagogischer Gestalter von Schutzmaßnahmen (...) nicht hinreichend“ ausgefüllt, schreiben die Forscher in ihrem Zwischenbericht.

Vier Betroffene haben sich bisher persönlich zu Wort gemeldet, wie viele Personen tatsächlich betroffen sind, konnten die Wissenschaftler nicht sagen. Sie bitten Betroffene, sich bei der Senatsbildungsverwaltung oder direkt bei der Universität Hildesheim zu melden.

Es gibt noch immer Wissenschaftler, die Kentler verteidigen

Zudem beklagen die Forscher der Uni Hildesheim, es gebe noch immer öffentlich bekannte Wissenschaftler und andere Personen, die in das Netzwerk eingebunden waren, die Kentlers Arbeit bagatellisierten oder sogar heroisierten. Eine der befragten Personen schilderte diese frustrierende Erfahrung. Für sie, sagen die Forscher, stelle sich die Frage, „wie da so weggesehen wurde“, auch von „studierten Menschen“.

Bis zu Kentlers Tod wurden seine sogenannten Experimente nicht aufgearbeitet, bei seinem Ableben 2008 galt er noch als renommierter Wissenschaftler. Der Abschlussbericht der Forscher zu Kentlers unsäglichem Wirken und seinem Netzwerk wird wohl im kommenden Jahr vorgestellt werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false