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Hier sind sie, Schabowskis Notizen. Entscheidend ist, was unter dem untersten roten Pfeil steht: "Verlesen Text Reiseregelung EXTRA".

© Oliver Berg/dpa

Günter Schabowskis Notizblatt aufgetaucht: Ein Zettel, der die Welt veränderte

„Verlesen Text Reiseregelung“ steht ganz unten: Der Notizzettel, mit dem Günter Schabowski am 9. November in die legendäre Pressekonferenz ging und ohne es zu wollen den Fall der Berliner Mauer auslöste, ist wieder aufgetaucht.

Ein sehr dünnes, liniertes Blatt Papier, von oben bis unten mit schwarzem Kugelschreiber krakelig beschrieben, hier und dort rot unterstrichen. Auf den ersten Blick lässt sich nur wenig entziffern. Und doch ist dieser Zettel „eines der wenigen Dokumente der jüngeren Zeitgeschichte, von dem man sagen kann, dass es die Weltgeschichte beeinflusst hat“. So formuliert es Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte in Bonn. Es ist der lang verschollene Notizzettel des SED-Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski aus seiner historischen Pressekonferenz vom 9. November 1989.

Auf dem Weg dorthin hatte Schabowski auf diesem Zettel notiert, worüber er vor den Journalisten in welcher Reihenfolge sprechen wollte. Am Ende steht: „Verlesen Text Reiseregelung“. Dabei handelte es sich um eine am selben Tag beschlossene Regelung, wonach DDR-Bürgern künftig Reisen in den Westen erlaubt sein sollten.

Allerdings hatte es sich die SED-Führung so vorgestellt, dass diese Reisen nur unter bestimmten Auflagen und auch erst vom nächsten Tag an beantragt werden konnten.

Die Regelung sollte vielleicht ab Weihnachten gelten - aber Schabowski wusste nichts davon

Die Reisen in den Westen sollten vielleicht vor Weihnachten beginnen, aber ganz bestimmt nicht noch in derselben Nacht. All das war Schabowski jedoch entgangen, weil er bei der Besprechung gar nicht dabei gewesen war. Und so antwortete er an diesem Abend auf die Frage eines italienischen Journalisten, ab wann die neue Regelung denn gelte: „Das trifft... nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich.“ Dies führte binnen weniger Stunden zum Fall der Berliner Mauer.

Schabowskis Sprechzettel war verschwunden, seit er ihn 1991 an einen Bekannten gegeben hatte. Nun meldete sich der Eigentümer, der allerdings anonym bleiben will. Er stammt ebenfalls aus Schabowskis Bekanntenkreis. Ihm kaufte das Bonner Museum das Dokument für 25 000 Euro ab. Kein hoher Preis für eine „Gelenkstelle der Weltgeschichte“, wie Hütter betont. Wäre das Papier erst auf den Auktionsmarkt gelangt, hätte es ungleich mehr gekostet. Da liegt er nun also auf Hütters Schreibtisch, der Zettel.

Der Zettel ist echt - daran besteht kein Zweifel

Erstaunlich, dass sich das auffällig dünne, gräuliche Blatt DDR-Papier überhaupt all die Jahre erhalten hat. Es ist weder verknickt noch verwischt. Dennoch hat Sammlungsdirektor Dietmar Preißler nicht den geringsten Zweifel an der Echtheit: „Alles ist genau überprüft worden.“ Wie der Zettel aussah und was draufstand, war schon lange bekannt, weil ein Historiker eine Fotokopie besaß. Nur das Original fehlte eben.

„Hier zeigt sich, was alles in einem Zettel stecken kann“, sagt Preißler. Es finden sich Notizen wie „Zeit!“ und „Nicht länger als 19:00“ - die Pressekonferenz sollte rechtzeitig zu Beginn der abendlichen Nachrichtensendungen im Fernsehen beendet sein. Ebenfalls auffällig: „Frage - Antwort“. Dass bei Pressekonferenzen der SED auch Fragen kritischer Journalisten zugelassen wurden, war noch etwas Neues. Vielleicht am aufschlussreichsten ist die Notiz ganz am unteren Rand: „Noch Fragen. Erneut Bezug zu Reiseregelung. Schritt zu Normalität“.

Durch die Reform sollte die Revolution ausgebremst werden

Das war es, was sich die DDR-Spitze von der neuen Regelung versprach: Die in Aussicht gestellte Möglichkeit, aus- und auch wieder einzureisen, sollte den Dampf aus der friedlichen Revolution nehmen und den kommunistischen Staat stabilisieren. Bekanntermaßen ging das schief. Mit seiner Pressekonferenz hatte Schabowski eine Entwicklung in Gang gesetzt, die sich nicht mehr beherrschen ließ. Tausende von Ost-Berlinern strömten danach zu den Grenzübergängen und verlangten unter Berufung auf ihn, in den Westteil gelassen zu werden. Die überforderten Grenzsoldaten gaben schließlich nach.

Schabowski - heute 86-jährig und nach mehreren Infarkten sehr krank - hat diese Dynamik selbst schonungslos analysiert. In einer Fernsehdokumentation sagte er: „Wenn Sie anfangen, die Diktatur durch gewisse Reformen zu lockern, dann zeigt sich, dass diktatorische Regime durch Reformen nicht zu verbessern oder zu veredeln sind, sondern sie sind durch Reformen nur abzuschaffen.“

Lesen Sie auch das Tagesspiegel-Interview mit Günter Schabowski: "Wir wollten uns mit dem Westen arrangieren" sowie den Rant: Mehr Erinnerung an Schabowski!

Christoph Driessen, dpa

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