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Berlin: Die Tonnen-Ideologen: Jürgen Brecht und seine Nachbarn sind Favoriten bei Abfall-Spiel

Jürgen Brecht würde niemals Unkraut sagen, Katastrophe oder Chaos. Viel zu negativ.

Jürgen Brecht würde niemals Unkraut sagen, Katastrophe oder Chaos. Viel zu negativ. Wenn jemand mit den informellen Regeln der Hausgemeinschaft nicht zurecht kommt, versprüht Jürgen solange kommunikativen Charme, bis das Opfer nach Luft schnappt. Deshalb ist Jürgen auch Berater für Sprachkommunikation. Bei der Gelben Tonne und dem zeitlosen Problem ihrer richtigen Befüllung (Jürgen würde jetzt "Gestaltung" sagen) geschah vor kurzem folgendes: Jürgen zog die Gelbe Tonne in den Hof seines Mietshauses in Lichterfelde-Ost, trommelte die Bewohner zusammen und veranstaltete eine private Testschüttung. Mit seiner kollegialen Pfarrerstimme erklärte Jürgen, dass Pappverpackungen im Allgemeinen und auch solche, die einen grünen Punkt aufweisen, n-i-c-h-t in die Gelbe Tonne gehören, sondern in die Blaue fürs Papier.

Nach diesem pädagogisch-sinnlichen Akt begann die entscheidende Phase des Wettbewerbs um die sauberste Tonne Berlins. Eine Woche lang galt es, die Gelbe Tonne einwandfrei zu befüllen, mit blitzblank geschrubbten Joghurtbechern und klargespülten Tetrapaks. Zehn Teams kamen in die engere Wahl. Heute ist D-Day, der Tag der offiziellen Schüttung am Postbahnhof in Friedrichshain. Dazu wird die Tonne unter Beisein von Zeugen versiegelt und weggebracht. Das Team mit der saubersten Tonne gewinnt 20 000 Mark des Wertstoffsammlers DASS für ein opulentes Hoffest. Jürgens Hausgemeinschaft ist klare Favoritin. Sie verfügte nämlich schon über eine Gelbe Tonne, als es sie offiziell noch gar nicht gab, damals, im Berlin der kommt-alles-in-die-Mülltonne-Zeit. Weil er den Grünen Punkt für einen wichtigen Fortschritt hielt, die Gelbe Tonne aber in den Süden Berlins noch nicht vorgedrungen war, mietete Jürgen bei der BSR eine schlicht mausgraue Tonne, startete im Haus eine PR-Kampagne und schob das Ding zwei Wochen später auf den Recyclinghof. Ein revolutionärer Coup, der leider kaum Nachahmer fand.

Während die Miet-Nebenkosten gemeinhin in die Höhe schossen, blieben sie in der Lorenzstraße konstant. Geld sparen ist übrigens das zweite wichtige Steckenpferd von Jürgen. Das Abarbeiten im Tarifdschungel bei Bahn oder Telefon führt bei ihm zu akuten Endorphin-Ausbrüchen. Und gegen 20 000 Mark hat er auch nichts einzuwenden. Soviel Geld für ein Hoffest ließe sich in der Lorenzstraße problemlos ausgeben. Die ökologisch orientierte Hausgemeinschaft richtet zeitweise mehrtägige Poolparties aus. Dekadenz und Ökologie passen gut zusammen, findet Jürgen. Die Champagnerkorken werden nachher separiert.

Zum Abschied im Treppenhaus deutet Jürgen das Unglaubliche an. Bei der "Gestaltung" der Gelben Tonnen sei man ja völlig frei, sagt er. Gestaltung? (schon wieder dieses Wort) Sein Gegenüber mimt ein großes Fragezeichen. Kann es sein... Manipulation? Jürgen: "In solchen Fällen überlasse ich nichts dem Zufall."

loy

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