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Eine junge Frau liebt Berlin offenbar noch mehr als der Autor dieses Textes und hat sich extra vor dem Brandenburger Tor fotografieren lassen.

© Getty Images/iStockphoto

Lernt uns endlich lieben!: Berlin ist Weltspitze, das muss der Rest von Deutschland erstmal schaffen

Die Deutschen schauen kritisch bis grimmig auf ihre Hauptstadt. Das ist unfair und unnötig, vor allem, weil die Berliner schon selbst genug über ihre Stadt meckern. Ein Brief an Deutschland.

Eine Glosse von Julius Betschka

An wen adressiert man so einen Brief über diese Stadt? „Liebes Berlin“, das klingt natürlich idiotisch. Richtet man seine Worte vielleicht besser gleich ans ganze Land? Oder muss man so ein Schreiben so gewaltig beginnen wie einst Ernst Reuter? „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“ Nein, das wäre wirklich drei Spuren zu groß, zu viel Fallhöhe für eine Verteidigungsschrift, gerade in diesen Zeiten. Aber doch, das ist es: Liebe Deutsche, schaut auf Eure Hauptstadt - und lernt sie endlich lieben. Die halbe Welt tut es ja schon.

Hierzulande schaut man stattdessen meist mit grimmigem Blick auf Berlin. Das Lob der Provinz gehört zum Deutschen wie das große D und das spätestens seit der Kaiserzeit. Jüngst erneuerte Friedrich Merz (noch ungekrönt) das deutsche Berlin-Ressentiment in Bayern mit dem Ausruf: „Nicht Berlin, nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland.“ Heilige Heckenschere! Warum macht der Merz das? Nun, die meisten Deutschen empfinden wie der CDU-Chef. Berlin ist in Umfragen (neben Köln) regelmäßig die unbeliebteste deutsche Großstadt. Beste Bedingungen für den Bierzeltredenbrüller.

Selbst in Liebesbriefen wird in Berlin noch gemeckert!

Natürlich, bunte Kreise als Verkaufszonen für Dealer, Hundehaufen am Bahnhof Zoo, viel zu viele Obdachlose oder Clans in Neukölln. Wer will Ihnen den besorgten Blick auf Ihre Hauptstadt übelnehmen. Die Berliner selbst blicken ja oft maximal maulig aus dem Fenster. Aus oben genannten Gründen und weil sich diese Stadt eben so rasant verändert.

Oft wird einem ganz schwindelig. An jeder Ecke wird gebaut, trotzdem geht’s nicht schnell genug. Und die Mieten, die steigen in Rekordgeschwindigkeit. Manchem droht der soziale Absturz, von der Mitte an den Rand. Von der Verwaltung ... fangen wir gar nicht erst von der Verwaltung an.

Sie merken, selbst in Liebeserklärungen wird bei uns herumgemeckert. Gefühlig will es bisher auch nicht so recht werden und jetzt kommen auch noch die Fakten zum oft beschworenen Hauptstadtmoloch: größtes Wirtschaftswachstum der Republik, 44 Unternehmensansiedlungen allein im Krisenjahr 2023, Start-up-Hauptstadt sowieso, 250.000 Studierende aus aller Welt an 40 Hochschulen, 200 Museen, drei Opernhäuser, 50.000 Verwaltungsmitarbeiter mehr als vor zehn Jahren, die besten Köche der Welt retten hier den Ruf der dürftigen deutschen Küche, Bus und Bahn fahren Tag und Nacht.

Berlins Pro-Kopf-Einkommen liegt inzwischen leicht über dem Bundesschnitt. Sie müssen uns also nicht mehr lange durchfüttern, aber auch noch nicht neidisch sein.

Berlin hat sich in nur 30 Jahren von der geteilten Ruinenstadt zur Weltmetropole gemacht. Die Stadt wächst und wächst und wirkt dabei manchmal wie ein Teenager. Laut, zu dreckig und nicht so gern gesehen bei Familienfeiern.

Julius Betschka, mag Berlin

Alles zu viel, zu schnell, zu voll? Auf dem Rest dieses Planeten nennt man das: Boomtown. In Deutschland rufen viele: failed state. Vielleicht war das verschlafene Bonn deshalb so eine passende deutsche Hauptstadt. Aber wissen Sie noch was? Man kann sich dieses Berlin im Gegensatz zu anderen deutschen Mittel- und Großstädten auch - ja, noch immer! - ganz gut leisten: Bei der Bezahlbarkeit liegt Berlin auf Platz 40 von 400 deutschen Landkreisen und Städten. Haben Sie das mal mit London, New York oder Paris verglichen? Dagegen wirkt Berlin fast wie das, was wir in Deutschland so lieben: Provinz.

In Berlin zählen die inneren Werte: Hinter grässlichen Häuserwänden verbergen sich oft Schätze. Hier der „OXI“-Club.

© AFP/ODD ANDERSEN

Ein bisschen unheimlich ist das alles, verständlich. Berlin hat sich in nur 30 Jahren von der geteilten Bauruinenstadt zur Weltmetropole gemacht. Die Stadt wächst und wächst und wirkt dabei manchmal wie ein Teenager. Laut, zu dreckig und nicht so gern gesehen bei Familienfeiern. Es ist, als wachse Berlin den Deutschen über den Kopf, hinaus in die Welt. Dabei muss es besser andersherum lauten: Zeit wird’s, dass Deutschland mit Berlins Tempo mithält, um den Anschluss in der Welt nicht zu verlieren.

Ja, die wildesten Ideen von hier kann man zur Not auch unbesehen durchrauschen lassen. Was kommen nicht alles für Gedanken aus den Hörsälen und Wohngemeinschaften dieser Stadt: Gendern, Polyamorie und blond gefärbte Augenbrauen müssen kein Modell für Deutschland werden. Dass hier niemand mehr Tiere isst, in Cafés nur Englisch geredet und Hafermilch ausgeschenkt wird, sind sowieso nur schöne Schauermärchen.

Berlin taucht in Deutschland vor allem als Gruselkabinett in den Nachrichten auf

Trotzdem kann man die Meldungen über Berliner Verrücktheiten fast täglich bewundern in den Zeitungen und Regionalsendern der Republik. Berlin gibt es dort in erster Linie als Gruselkabinett zu bestaunen. Tut sich dieses Land auch deshalb so schwer mit seiner nicht mehr ganz so neuen Hauptstadt?

Probieren Sie es doch mal mit Achtsamkeit statt Angst. Noch so ein Großstadttrend. Sparen Sie sich die Zornesfalten, das bewahrt Sie später vor Botox in der Stirn. Staunen Sie lieber darüber, wie in Berlin schon Probleme gelöst werden, von denen andere noch Alpträume haben. Man kann sich in einer globalisierten Welt ohnehin nicht ewig davor verstecken. Beobachten Sie, wie man sich über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verständigen kann. Können Sie sich vorstellen, wie niemand guckt, wenn Sie anhaben, was Sie lieben? Sie dürfen Skianzüge im Sommer tragen! Dreiviertelhosen! Benjamin-Blümchen-Socken!

Staunen Sie über so viel Armut mitten in Deutschland und werden Sie wütend. Auch das ist: Achtsamkeit. Erleben Sie, dass man in 70 Prozent der Stadt genauso „normal“ lebt wie in einer deutschen Kleinstadt. Wie grün alles ist, wie viel Seen es gibt. Staunen Sie über Deutschlands Magnet für die Welt. Und, wirklich: Nippen Sie mehr als dreimal an einem Hafermilch-Cappuccino. Mhhh. Nehmen Sie das Mhhh mit nach Hause.

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, die „Völker der Welt“ haben längst auf den alten Ernst Reuter gehört. Alle wollen nach Berlin. Für die anderen ist dieser Brief gedacht. Mundwinkel nach oben, bitte. Über Berlin meckern, das können wir in Berlin schon selbst am besten. Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Hauptstadt. Gründe dafür finden sich, aber das ist mit Metropolen eben so. Fürchten Sie sich nicht! Der Mensch, der alles regiert, ist ein mittelalter, weißer Mann - und zwar aus Spandau. Das liegt bei Berlin, sagt man. Es ist wirklich alles halb so schlimm.

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