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Vertreter der Parteien der Ampel-Koalition und der Opposition äußern sich skeptisch mit Blick auf eine baldige EU-Beitrittsperspektive der Türkei unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan geäußert

© Gestaltung: Tagesspiegel/IMAGO/Valery Sharifulin, freepik (2)

„Der Ball liegt in der Türkei“: Das verzwickte Verhältnis zwischen Brüssel und Ankara

Beim heutigen EU-Gipfel mit Kanzler Scholz und seinen europäischen Amtskollegen geht es auch um das Verhältnis zur Türkei. Eine Wiederbelebung der Beitrittsverhandlungen steht nicht zur Debatte.

Gleich zweimal rückt die Türkei in dieser und der kommenden Woche in den Fokus: Beim EU-Gipfel soll an diesem Mittwoch in Brüssel unter anderem über die strategische Rolle der EU-Türkei-Beziehungen gesprochen werden. Und dann reist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am kommenden Montag zu einem offiziellen Besuch in das Land am Bosporus.

Der seit langem geplante Besuch Steinmeiers findet aus Anlass der seit 100 Jahren bestehenden diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei statt. Es geht bei der Visite in erster Linie darum, die Verbundenheit beider Länder, die durch zahlreiche gesellschaftliche Verflechtungen gekennzeichnet ist, zu unterstreichen.

Wie es aus dem Bundespräsidialamt weiter hieß, sind bei Steinmeiers Visite sowohl Gespräche mit Präsident Recep Tayyip Erdogan als auch mit dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der Oppositionspartei CHP geplant.

Der Wahlsieg der CHP zeigt, dass ein politischer Wechsel trotz massiver rechtsstaatlicher Defizite und unfairer Wahlvoraussetzungen möglich ist.

Katarina Barley, SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl

Imamoglu war jüngst bei landesweiten Kommunalwahlen wiedergewählt worden. Bei diesen Wahlen hatte Erdogan eine Schlappe einstecken müssen, weil seine islamisch-konservative Partei AKP dort ihr schlimmstes Wahldebakel seit zwei Jahrzehnten erlebte. Unter dem Eindruck der Machtverschiebung auf kommunaler Ebene wollen die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel nun diskutieren, wie die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara mit neuem Leben gefüllt werden können.

Der EU-Außenbeauftrage Josep Borrell hatte im November einen Bericht zum Stand der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei vorgelegt. Borrell schlug dabei eine engere Zusammenarbeit in Bereichen wie Handel, Migration, Energie sowie eine Modernisierung der Zollunion vor. Eine Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen steht hingegen nicht zur Debatte. Die Verhandlungen sind eingefroren, seit die türkische Regierung unter Erdogan nach dem Putschversuch von 2016 massiv gegen ihre Gegner vorging.

Solange die Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit und die Unterdrückung der Opposition andauert, ist ein EU-Beitritt nicht denkbar.

Katarina Barley, SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl

„Der Wahlsieg der CHP zeigt, dass ein politischer Wechsel trotz massiver rechtsstaatlicher Defizite und unfairer Wahlvoraussetzungen möglich ist“, sagte die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, dem Tagesspiegel mit Blick auf die Kommunalwahlen von Ende März. Das „großartige Ergebnis“ sei ein starkes Signal dafür, dass es „eine andere Türkei“ geben könne, fügte sie hinzu.

Oppositionssiege als „Zeichen Richtung Demokratie“

Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments bekräftigte allerdings auch, dass ein EU-Beitritt weiterhin in weiter Ferne liegt: „Solange die Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit und die Unterdrückung der Opposition andauert, ist ein EU-Beitritt nicht denkbar. Das können wir nicht beschönigen.“

Oppositionspolitiker wie der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, gingen aus der jüngsten Kommunalwahl siegreich hervor.

© REUTERS/DILARA SENKAYA

Nach der Ansicht von Anton Hofreiter (Grüne) muss Erdogan den Sieg der Opposition bei den Kommunalwahlen „als Zeichen Richtung Demokratie und EU“ sehr ernst nehmen. „Eine Wiederaufnahme der Beitrittsgespräche mit der EU hängt in erster Linie von der Türkei ab“, sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag weiter.

Deutschland und Europa haben ein elementares Interesse an guten, belastbaren Beziehungen zur Türkei.

Unions-Fraktionsvize Johann Wadephul (CDU)

Als Voraussetzung für eine Wiederaufnahme der Beitrittsgespräche nannte der Grünen-Politiker Fortschritte bei der Erfüllung der sogenannten Kopenhagener Kriterien. Diese Kriterien – darunter Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte – müssen von EU-Beitrittskandidaten erfüllt werden. Außerdem müsse die Türkei „endlich die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umsetzen, Presse- und Meinungsfreiheit garantieren und alle politischen Gefangenen entlassen“, forderte Hofreiter.

Noch deutlicher äußerte sich der FDP-Fraktionsvize Michael Link: „Die Frage nach einer Wiedereröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stellt sich nicht, denn eine von Erdogan autoritär regierte Türkei kann kein Beitrittskandidat sein.“ Stattdessen sollte man sich auf real machbare Fortschritte der Zusammenarbeit in Bereichen von gegenseitigem Interesse konzentrieren, etwa bei der Stärkung der Handelsbeziehungen, forderte Link.

Unions-Fraktionsvize Johann Wadephul (CDU) kritisiert, dass die Ampel-Koalition die Türkei vernachlässigt habe.

© dpa/Jonas Walzberg

Unions-Fraktionsvize Johann Wadephul (CDU) sieht unterdessen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in der Pflicht, beim EU-Sondergipfel konkrete Vorschläge zum Ausbau der europäisch-türkischen Beziehungen einzubringen. „Die Türkei ist ein wichtiger Partner in einer sicherheitspolitisch enorm exponierten Region. Deutschland und Europa haben ein elementares Interesse an guten, belastbaren Beziehungen zur Türkei“, sagte Wadephul. Gerade im Bereich von Wirtschaft und Energie gebe es „enormes Potenzial in den bilateralen Beziehungen, das nicht ausgeschöpft ist“.

Fortschritte nicht ausgeschlossen

Die Türkei sei von der Ampel-Koalition „zu lange zu stiefmütterlich behandelt“ worden, kritisierte Wadephul. Von daher sei die bevorstehende Reise Steinmeiers zu begrüßen, „um die Gesprächskanäle erneut zu intensivieren“. Allerdings zeigte er sich mit Blick auf einen Neuanfang bei den Beitrittsverhandlungen zurückhaltend: „Der Ball zur Wiederbelebung der EU-Beitrittsgespräche liegt in der Türkei“, so Wadephul.

„Wenn die Türkei in den Bereichen Rechtsstaat, Demokratie und Justiz wieder einen europäischen Pfad einschlägt, kann es hier zu Fortschritten kommen“, sagte der CDU-Politiker weiter. Die jüngsten Kommunalwahlen hätten darauf jedoch noch keinen praktischen Einfluss, „denn auf nationaler Ebene geben weiterhin Erdogan und die AKP den Ton an“.

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