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Im alten Charkiwer Kiez. Yuriy Gurzhy.

© privat

Ukrainisches Kriegstagebuch (160): Husten

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Am Abreisetag erwachte ich in Berlin mit Halsschmerzen. Ich habe alle verfügbaren Erkältungstabletten eingepackt und entschieden, dass ich es mir einfach nicht leisten kann, krank zu werden. Jedoch kam ich nach Charkiw zwei Tage später mit einem hartnäckigen Husten. Besonders belastend ist er beim Aufwachen - ich huste los und höre einfach nicht auf. Ärgerlich ist auch, dass man in der Ukraine derzeit nachts häufig aufwachen muss. Die Sirenen, die in unserer Gegend ziemlich laut sind, heulen jedes Mal, wenn die Gefahr eines Luftangriffs besteht - und dann erneut, sobald sie vorüber ist. Obwohl viele meiner Freunde sich davon nicht beeinträchtigen lassen, wache ich jedes Mal auf. Zuerst schaue ich bei Telegram nach, wohin die abgefeuerten Raketen fliegen - es gibt zahlreiche Kanäle, die sich darauf spezialisieren. Für das Gebiet Charkiw lassen sich die Vorhersagen bei TLK News finden.

„01:32. Die taktische Luftfahrt rückt zur Startposition vor. Bedrohung für den östlichen Teil der Region, insbesondere für Kupjansk“

Mein Husten wacht mit auf. Ich durchblättere die Fotos auf meinem Handy, lese meine Notizen und grüble nach.  Witzig, wie sich die Dinge entwickeln - obwohl ich eigentlich seit 28 Jahren in Berlin lebe, kehre ich in letzter Zeit immer öfter in meine Heimatstadt zurück. Und der Kiez, in dem ich gerade auf den nächsten Luftalarm warte, übt nach wie vor eine magnetische Anziehungskraft auf mich aus. 

Zum dritten Mal bin ich zu Gast bei der Künstlerresidenz des Charkiwer Literaturmuseums im Schriftstellerhaus Slovo. Vor 90 Jahren lebten hier Autoren, die ein äußerst bedeutsames, wenn auch tragisches Kapitel der ukrainischen Kulturgeschichte geschrieben haben. Die meisten von ihnen fanden in den 1930er Jahren einen gewaltsamen Tod. Es ist heute nahezu unvermeidlich, an diese Ära nicht zu denken, da die Verfolgung und brutale Vernichtung ukrainischer Kulturschaffender wieder in vollem Gange ist. 

In der Wohnung, die diese Woche Irena Karpa und ich teilen, hat wenige Monate vor uns Victoria Amelina gelebt, die Anfang Juli in Kramatorsk durch einen russischen Raketenangriff ums Leben kam. Das Gebäude selbst erlitt im März 2022 einen Beschuss, dessen Spuren auf der Fassade bis heute sichtbar sind. 

Mein Kindergarten befand sich im Hof eines der Nachbarhäuser. Im Alter von fünf Jahren hatte ich meinen ersten Englischunterricht unweit von hier. Mit elf begab ich mich mehrmals wöchentlich zur Klavierlehrerin gleich um die Ecke. Meine erste Freundin wohnte nur drei Häuser weiter. Ich liebe diese Gegend. 

Obwohl vieles beinahe genauso aussieht wie vor drei Jahrzehnten, sind Veränderungen unübersehbar. Es sind weniger ausländische Studenten unterwegs, dafür wesentlich mehr Menschen in Militäruniform . Gegenüber des Militärkrankenhauses, wo noch vor ein paar Jahren ein elegantes Spirituosengeschäft stand, befindet sich heute ein großer Militärhandel mit dem etwas skurrilen Namen „Frontman“. Spuren von Raketensplittern sind an einigen Gebäuden erkennbar, sogar am Hochzeitspalast. Der Putz blättert gegenüber ab und von den Graffiti „Ich 🖤Charkiw“ ist nur noch die Hälfte übrig.

Ich habe Zweifel, ob die jamaikanischen Musiker, die Reggae Anfang der 1970er erfunden haben und in ihren Liedern über Roots and Culture gesungen haben, dasselbe im Sinn hatten. Doch heute Nacht erscheint mir diese Verbindung sinnvoll. Ich befinde mich hier in meiner Heimatstadt, an einem Ort, der sowohl für die ukrainische Kultur als auch für mich persönlich von großer Bedeutung ist. Dies geschieht zu einer Zeit, in der die Kultur erneut bedroht ist. Gemeinsam mit meinen Landsleuten nehmen wir ein Reggaealbum auf. Aus diesem Grund bin ich heute hier – und es fühlt sich richtig an.

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