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Liebevolle Straßenbegrünung in Charkiw.

© Irena Karpa

Ukrainisches Kriegstagebuch (159): Rote-Bete-Gazpacho und ein neues Blumenbeet in Charkiw

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

3.8.2023
Im Dezember 2022 wurde mir kurz vor meiner Reise in die Ukraine bewusst, dass mein Zug Lwiw spät in der Nacht erreichen würde. „Wo soll ich denn um drei Uhr nachts mitten in der Sperrstunde hin?“, fragte ich Tetyana Pylypchuk, die Direktorin des Charkiwer Literaturmuseums, die meinen Besuch organisierte. „Alles gut, wir haben unsere Leute überall“, versicherte sie mir.

Wenige Tage später holte mich Lida Kalashnikova in Lwiw vom Bahnhof ab. Wir hatten uns zwar im Literaturmuseum 2020 kennengelernt, aber ich wusste nicht, dass sie im Februar des vergangenen Jahres mit ihrem Mann und den beiden kleinen Töchtern nach Lwiw gezogen war.

Vor ein paar Tagen kam Lida nach Charkiw, um bei der heißen Phase unseres Projektes SkovoroDance vor Ort dabei zu sein. Sie wollte mich wieder mit dem Auto abholen, aber gestern haben wir uns umentschieden. „Es tut mir leid, aber die Nächte hier sind echt anstrengend“, meinte sie, „ich muss ausschlafen, sonst ist mein Tag im Arsch“.

6:14 Uhr, der Zug aus Kiew kommt pünktlich in Charkiw an. Draußen wartet ein Taxi auf mich, während ich mit meinem riesigen Reisekoffer neben Hunderten anderen gerade ankommenden Passagieren zum Ausgang bewege. Ich kann mich gut an den Dezembermorgen im Jahr 2022 erinnern, als ich das letzte Mal hier war – damals waren es nicht mehr als 40 Menschen am Bahnhof.

„Eine Weile her, seitdem Sie das letzte Mal in Charkiw waren, oder?“, fragt der Taxifahrer und meint, ich sollte mir unbedingt das Blumenbeet ansehen, sofort! Es scheint eine Ehrensache für ihn zu sein. Ich täusche Enthusiasmus vor. Während wir die Wissenschaftsallee entlang fahren, entdecke ich tatsächlich ein schmales buntes Blumenbeet in ihrer Mitte. Nicht übel! In fünf Minuten sind wir am Schriftstellerhaus Slovo angekommen, wo sich die Künstlerresidenz des Literaturmuseums befindet. „Gratulation, dass Sie in Charkiw sind!“, verkündet der Taxifahrer feierlich.

Um reinzukommen, muss ich Irena Karpa anrufen. Für die kommende Woche ist sie meine Mitbewohnerin. Sie ist bereits gestern aus Paris angereist, um hier an ihrem neuen Roman zu arbeiten und auch an unseren Albumaufnahmen mitzuwirken. Mein Anruf weckt sie, es ist noch nicht mal sieben Uhr.

Die Band Alcohol Ukulele hat zwei Mitglieder verloren

Ursprünglich hatte ich geplant, mich für eine Stunde hinzulegen, da zwei Nächte im Zug keine richtige Erholung waren. Doch die Aufregung ist zu groß, ich weiß, dass es mit dem Einschlafen nichts wird. Ich freue mich, in meiner Heimatstadt zu sein und Irena wiederzusehen. Sie hat auf ihrem Weg aus Kiew eingekauft, und die Tomaten und Gurken, die sie von einer Oma am Rand der Autobahn erworben hat, sehen so ansprechend aus, dass ich sofort Hunger bekomme. Zum Frühstück machen wir einen Salat, der besser schmeckt als alles, was ich je gegessen habe!

Da Serhij Zhadan noch nicht aus der Tour zurück ist, habe ich heute frei. Irena und ich gehen auf einen Spaziergang, ich zeige ihr das Blumenbeet und die albernen Skulpturen vorm Eingang in die Medizinische Universität, die ausländische Student*innen darstellen. Wir genießen kalten Kaffee im Pakufuda, dem Treffpunkt der kreativen Szene Charkiws.

Es ist schön, hier bekannte Gesichter zu sehen. Ich stelle Irena meinen alten Freund und Musikerkollegen Yurek Yakubov vor. Wie einige andere Kameraden von mir, ist er im Frühling nach Charkiw zurückgekehrt. Mit seiner chaotisch-charmanten Band Alcohol Ukulele scheint er in den letzten Wochen immer mehr Auftritte zu haben. Seit dem Beginn des Großen Krieges hat er schon zwei Bandmitglieder verloren.

Yurek hat ein Auto, zusammen fahren wir ins Literaturmuseum und dann in ein neues Restaurant der innovativen ukrainischen Küche, wo man Rote-Bete-Gazpacho bekommt. In Charkiw tobt das Leben!

Als die Sonne untergeht, fällt mir auf, dass alle hier sich einen ruhigen Abend wünschen. Bald bekomme ich zu spüren, warum. Ab 21 Uhr wird die Stille über der Stadt regelmäßig von heulenden Sirenen durchbrochen. Gemäß den Vorschriften sollte man sich sofort auf den Weg zum Schutzbunker machen.

Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Stadt bombardiert wird, gerade relativ gering, daher wird der Luftangriffsalarm oft einfach ignoriert. Ich frage mich, ob wir diese Nacht heil überstehen werden. Ich möchte davon ausgehen. Gute Nacht, Charkiw! Morgen sehen wir uns wieder. Ich hoffe es sehr.

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