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Landliebe und Karneval. Seine alten Kameraden feiern die Rückkehr des aus der Zeit gefallenen Artur (Josh O’Connor).

© Piffl Medien

„La Chimera“ im Kino: Indiana Jones trifft auf Orpheus

Ein gewiefter Grabräuber steigt in die Unterwelt, um in die Vergangenheit zu entfliehen. In Alice Rohrwachers Kinowunder „La Chimera“ verbinden sich Mythen und Trugbilder.

Von Andreas Busche

Der Engländer hat ein Näschen für alles Antike, auch für „antike“ Nasen. Das Kompliment, das der junge Mann im verbeulten Anzug seiner Mitreisenden am Anfang von „La Chimera“ macht, ist nicht sehr höflich, aber mit guten Manieren kommt man im Gefängnis auch nicht weit.

Der vom Weg abgekommene Archäologe Artur hat gesessen, wegen Grabräuberei. Und weil er über die „Gabe, verlorene Dinge zu finden“ verfügt, war er als Anführer der Gruppe verlotterter „Tombaroli“ prädestiniert, die die über 2000 Jahre alten Gräber in der Gegend um Etrurien für ihren persönlichen Profit plündern. Bis er erwischt wurde.

Jetzt ist Artur zurück, aber er hat noch ein anderes Motiv, weswegen er mit seiner Wünschelrute den Grund nach klandestinen Gemäuern absucht. In der Unterwelt wähnt dieser waidwunde Orpheus nicht nur etruskische Schätze, sondern auch seine Geliebte Beniamina, die ihn in seinen Tagträumen mit dem roten Faden ihres sich auflösenden Strickkleids lockt.

Wegen ihr ist Artur (Josh O’Connor, der seine hinreißenden Segelohren in „The Crown“ schon Prince Charles verlieh) an seine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt. Zu seinen „Tombaroli“, vor allem aber zu Signora Flora, der Mutter Beniaminias, die in einer von Patina überzogenen Landvilla lebt. Sie empfängt ihn wie einen verlorenen Sohn und nährt so die Hoffnung, dass auch ihre Tochter irgendwann wieder auftauchen wird.

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„La Chimera“ spielt irgendwann in den 1980ern Jahren, auch wenn es für diese zeitliche Verortung nur wenige Anhaltspunkte gibt. Das Kino der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher existiert in einem Reich zwischen Märchen und Realität, Kinomythen und realer Geschichte. Es wird zwischen den Epochen lebendig, seinen eigentlichen Zauber entfaltet es beim Betrachten im Dunkel des Kinosaals. So wie der Schatz, den Arturs Gang aus einer alten Etruskergruft birgt und der mit dem Einfall des Tageslichts verblasst.

Die Patina der italienischen Geschichte

Auch in die Zimmer von Floras Villa haben sich Jahrhunderte von Geschichte eingeschrieben. Da ist es nur folgerichtig, dass ihre neue Gesangsschülerin, die sich nebenbei um den Haushalt der alten Dame kümmert, auf den Namen Italia hört.

Italia ist mit ihren Blumenpullovern und ihrer wuschigen Energie eine fast ätherische Erscheinung in der ländlichen Rauheit von „La Chimera“, sie fungiert aber als eine Art Schutzpatronin, die Hüterin der Geschichte. Dass sie von der Brasilianerin Carol Duarte gespielt wird, bekannt geworden in der nicht minder zeitlosen Romanze „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“, ist einerseits eine schöne Ironie, legt aber auch Spuren zu einem geistesverwandten zeitgenössischen Kino jenseits des Atlantiks.

Artur (Josh O’Connor) und Italia (Carol Duarte) auf nächtlichem Streifzug.

© Piffl Medien

Italia bringt dem radebrechenden Artur die italienische Zeichensprache bei; was die beiden verbindet, ist fassbarer ist als sein Band – beziehungsweise Faden – mit Beniamina (Yile Yara Vianello). Zwischen ihnen steht aber auch die Vergangenheit. In diese begibt sich Artur, um den Gräbern ihre Schätze – Opfergaben, die „nicht für menschliche Augen bestimmt“ sind – zu entreißen und zu Geld zu machen. Eine Art spätkapitalistischer Indiana Jones.

Italia dagegen verfügt über einen ausgeprägten Gemeinsinn: Manche Dinge gehören allen und niemandem, die Lektion hat sie von Signora Flora gelernt, die Isabella Rossellini mit der ganzen Weisheit des italienischen Kinos verkörpert. Den alten Bahnhof von Riparbella verwandelt Italia später in eine Frauen-Kommune.

Übergänge von Naturalismus und Märchen

Schon in ihren ersten drei Filmen hat Rohrwacher ein Faible für die Landbevölkerung und das städtische Lumpenproletariat gezeigt. Das Bukolische und das Karnevaleske gingen in „Land der Wunder“ über eine Aussteigerfamilie, die von der Bienenzucht lebt, und im Vorgänger „Glücklich wie Lazzaro“, einer Schelmengeschichte über die Seligkeit der Naivität, stets Hand in Hand.

In der französischen Kamerafrau Hélène Louvart hat Rohrwacher eine Gleichgesinnte gefunden, die für die fließenden Übergänge von Naturalismus und Märchen, von Vergangenheit und Gegenwart, Tagtraum und Halbschlaf eine haptische Poesie des Lichts findet. Rohrwacher hält ihre Geschichte spielerisch in der Schwebe. Und dahinter kommt ein Kino-Materialismus zum Tragen, den „La Chimera“ fast beiläufig miterzählt.

Artur (Josh O’Connor, mitte) und seine „Tombaroli“ machen Geschäfte mit undurchsichtigen Elementen.

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Denn das Licht bricht sich je nach Filmmaterial (8mm, Super16 und 35mm) auf andere, bezaubernde Weise: Die unterschiedliche Körnigkeit und sichtbar ausgefransten Bildränder evozieren eine Nostalgie, aber auch ein Gefühl für die utopischen Zwischenzustände des Kinos, von denen Rohrwachers Filme Zeugnis ablegt. Wenn Artur wieder aus der Unterwelt hervorsteigt, erstrecken sich im Hintergrund entlang des Strandes moderne Fabriken und Industrieanlagen.

Denn ganz hat Rohrwacher ihren Realitätssinn nicht verloren. Zeitlich markieren die 1980er Jahre einen vorläufigen Endpunkt in der Modernisierung Italiens, die Grabräuber sind – wie die mittellosen Erntebauern in „Glücklich wie Lazzaro“ – die Reste eines ländlichen Proletariats, das sich gegen neue Marktkräfte behaupten muss.

Das sind in „La Chimera“ die Profiteure des Kunstmarktes, verkörpert von Alba Rohrwacher, der Schwester der Regisseurin, die wie ein Bond-Bösewicht (sie spricht Deutsch) auf einem Dampfschiff die Vergangenheit Italiens an den Meistbietenden verscherbelt. Artur und seinen „Tombaroli“ droht das Schicksal, von diesen Kräften übergangen zu werden. Sein einziger Ausweg ist Beniaminas roter Faden, der sich wie ein filigranes Rettungsseil durch die Handlung zieht.

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