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Etwa 8000 Menschen demonstrierten am Donnerstag in Malmö für Palästina und den Ausschluss Israels vom ESC.

© AFP/JOHAN NILSSON/TT

Die Politisierung des ESC: Von wegen ein bisschen Frieden

Demos, Petitionen, Drohungen: Der Eurovision Song Contest wird immer stärker politisch aufgeladen. Am Ende könnte er daran zugrunde gehen. Doch eine Welt ohne ESC wäre gewiss keine friedlichere.

Ein Kommentar von Lion Grote

Wenn am Samstagabend um 21 Uhr in vielen Wohnzimmern in Deutschland und Europa die Eurovisionshymne erklingt, dann beginnt ein seit Jahrzehnten eingeübtes Schauspiel. Man lacht über verrückte Kostüme, wundert sich über schiefe Töne, lässt sich mitreißen von einem tollen Lied, stimmt für seinen Favoriten ab.

Wenn am Samstagabend um 21 Uhr in vielen Wohnzimmern in Deutschland und Europa die Eurovisionshymne erklingt, dann beginnt ein einzigartiges politisches Schauspiel. Man schaut auf jedes kleinste palästinensische Symbol, wittert in jedem Lied ein verstecktes Statement, befürchtet Buh-Rufe für Israel, stimmt nur für ein Land ab, dessen Politik einem genehm ist.

Der Eurovision Song Contest ist neben Sportveranstaltungen die größte Bühne, die es in Europa gibt. Mehr als 600 Millionen Menschen schauen zu, wenn seit 1956 einmal im Jahr Künstlerinnen und Künstler aus allen Teilen Europas – und inzwischen auch aus Australien – zusammenkommen, um gemeinsam zu singen und zu feiern. Am Ende gibt es einen Gewinner – aber nur dank der Stimmen der anderen.

Was für eine kraftvolle und verbindende Idee damals, wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Gewiss, unpolitisch war dieser Wettbewerb nie. 1969 verzichtete Österreich auf eine Teilnahme, weil man nicht im Spanien der Franco-Diktatur auftreten wollte. 1975 und 1976 boykottierten Griechenland und die Türkei wegen des jeweils anderen den ESC – beide Länder bekriegten sich um die Vorherrschaft auf Zypern. 

Ungarn tritt seit Jahren nicht an, weil man mit der starken Präsenz aus der LGBTQ+-Community nicht einverstanden ist. Und Russland ist seit 2022 wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine ausgeschlossen.

Malmös Juden fühlen sich nicht mehr sicher

Doch was wir in diesem Jahr rund um den ESC im schwedischen Malmö erleben, hat eine neue Dimension: Die israelische Sängerin Eden Golan verlässt aufgrund von Morddrohungen nur für die Auftritte das Hotel, Polizei patrouilliert mit Maschinengewehren durch die Fußgängerzone, zwei Tage vor dem Finale ziehen 8000 Menschen bei einer pro-palästinensischen Demonstration durch die Stadt und Juden in Malmö fühlen sich nicht mehr sicher. Wir erleben einen Wettbewerb, bei dem Tausende Künstler aus ganz Europa den Ausschluss Israels fordern. Das gab es nicht mal im Fall Russlands.

Etwa 8000 Menschen demonstrierten am Donnerstag in Malmö für Palästina und den Ausschluss Israels vom ESC.

© dpa/Martin Meissner

Plötzlich geht es beim ESC nicht mehr um staatliche Beeinflussung, sondern darum, dass politische und gesellschaftliche Gruppen den Wettbewerb instrumentalisieren. Der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 und der darauffolgende Krieg in Gaza haben gezeigt, dass in vielen Ländern Europas das Verhältnis zu Israel und den Palästinensern noch lange nicht ausdiskutiert ist. Die aktuellen Proteste an deutschen Universitäten sind nur ein Beleg dafür.

Natürlich strahlt dieser gesellschaftliche Konflikt auf den ESC ab. Und schon klar: Kunst kann nicht unpolitisch sein. Aber wie sollte ein Gesangswettbewerb die komplexe Weltlage, all die politischen Trennlinien, die ideologischen Sichtweisen unserer Zeit berücksichtigen, abbilden und darstellen können?  

Je stärker der Wettbewerb von außen und von teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern als politische Plattform genutzt wird, desto schneller ist er am Ende. Weil er zerrieben wird. Weil eben immer mehr Menschen das Gefühl haben, dieser Wettbewerb sei nicht für sie. In letzter Konsequenz wird womöglich schon das bloße Zuschauen als politisches Statement gewertet. 

Statt das Trennende zu betonen und zu erwarten, dass eine Seite aufgibt, war es immer die Stärke des ESC, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Wenigstens einmal im Jahr. Eine Welt ohne ESC wäre gewiss keine friedlichere.

Und die stärksten Signale sind doch sowieso die, die das Publikum sendet. So wie 2022, als ganz Europa in nie dagewesener Deutlichkeit für den ukrainischen Beitrag gestimmt hat, wenige Wochen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges. 

Rund um diesen ESC gibt es kein bisschen Frieden. Aber doch ein wenig Hoffnung. Darauf, dass es Europa noch gelingt, einen friedlichen, fröhlichen, gemeinsamen Abend zu verbringen.

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