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Sport: Zack! Boing! Dong! Krawumm!

Eine stabile Abwehr, ein Angriff im Rausch: Borussia Dortmund verdrischt selbst starke Gegner wie im Comic. Jürgen Klopps Truppe scheint in dieser Saison jede Prüfung zu bestehen

Renato Augusto ahnte die gelbe Gefahr mehr, als dass er sie spürte. Die Gefahr kam von hinten, von vorne und von rechts. Und dass nicht auch noch von Renato Augustos linker Flanke ein Dortmunder Spieler herannahte, um ihn zu attackieren, lag ausschließlich daran, dass sich links neben ihm nur noch die Seitenlinie befand. Die Gelben waren noch weit genug weg, und doch genügte schon die Ahnung der kommenden Gefahr, um den Leverkusener Mittelfeldspieler, einen eigentlich begnadeten Techniker, ausreichend zu verunsichern. Der Ball senkte sich auf seinen Spann – und schlidderte von dort unkontrolliert ins Seitenaus. Solche Fehler kennt man gar nicht von Renato Augusto.

Manchmal sind es die kleinen, scheinbar unscheinbaren Szenen, die schon alles über das große Ganze erzählen. Renato Augustos technische Unfertigkeit im toten Raum an der Mittellinie trug sich Mitte der ersten Halbzeit zu. Im Spitzenspiel der Fußball-Bundesliga stand es noch 0:0 zwischen Bayer Leverkusen und Borussia Dortmund, rein nach den Zahlen also begegneten sich beide Parteien immer noch als gleichwertige Kontrahenten – der Keim für die Leverkusener Niederlage aber war längst gelegt. „Die erste Halbzeit hat mir das Gefühl gegeben, dass wir da sind,“ sagte Dortmunds Trainer Jürgen Klopp.

Vermutlich kam diese Erkenntnis für Klopp weniger überraschend als für den Rest der Welt, der sich in der Winterpause stellvertretend den Kopf des BVB zerbrochen hatte: Wie wollen die dem Druck standhalten, so jung und unerfahren wie die sind? Irgendwann müssen die doch Angst vor der eigenen Courage kriegen und einbrechen. Nach dem ersten Spiel der Rückrunde, dem überzeugenden 3:1 (0:0) des Bundesliga-Spitzenreiters gegen den Tabellendritten aus Leverkusen, nach Dortmunds neuntem Sieg im zehnten Auswärtsspiel dieser Saison muss man leider feststellen: netter Versuch, aber völlig wirkungslos. Die externen Deutungen wurden von den Dortmundern weniger als Bedrohung wahrgenommen, sondern eher zur zusätzlichen Motivation genutzt. „Es hat uns auf jeden Fall verwundert, dass die Mannschaft, die die beste der Hinrunde war und zehn Punkte Vorsprung hat, plötzlich als Außenseiter gehandelt wird“, sagte BVB-Verteidiger Mats Hummels.

Die Dortmunder haben in Leverkusen gewissermaßen den freien Fall gestoppt, in dem sie sich nach allgemeiner Einschätzung während der Winterpause befunden hatten. „Wir haben denen die richtige Antwort gegeben, die was ganz anderes erwartet haben“, sagte BVB-Präsident Reinhard Rauball. Gegen Bayer zeigte die Mannschaft von Jürgen Klopp nicht den Hauch des Zweifels. Die Dortmunder wirkten von der ersten Minute an griffiger und entschlossener als die Heimmannschaft. Sie attackierten die Leverkusener früh und unterbanden bei ihrem Gegner alle Ansätze eines strukturierten Spielaufbaus. „Die Dortmunder waren uns in allen Bereichen überlegen“, sagte Leverkusens Torhüter René Adler.

Was in der ausverkauften Leverkusener Arena zwischen der 49. und der 55. Minute passierte, war – je nach Interessenslage – beeindruckend oder ernüchternd. Ernüchternd, weil die Bundesliga-Saison 2010/11 ihre Spannung wohl kaum noch aus dem Kampf um die Meisterschaft beziehen wird. Beeindruckend, weil die Dortmunder innerhalb von offiziell gemessenen 340 Sekunden aus einem 0:0 ein 3:0 machten. Die Leverkusener mussten sich vorkommen, als wirkten sie in einem Comic mit. Mit Wucht und Präzision prasselten die Schläge auf sie ein: Zack! Boing! Dong! Krawumm! Bayer sackte zusammen und taumelte in ein kaum für möglich gehaltenes Desaster. Mit etwas Fantasie hätte man sogar die Sterne über den Köpfen der Leverkusener sehen müssen.

„Wir hätten’s gern ein bisschen spannender gemacht“, sagte Bayers Sportdirektor Rudi Völler. Seine Mannschaft galt eigentlich als aussichtsreichster Konkurrent der Dortmunder, am Freitagabend wurde sie deren erstes Opfer. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Borussen die erste Prüfung der Rückrunde bestanden hatten, nötigte, bei allem Schmerz, auch Jupp Heynckes ein hohes Maß an Bewunderung ab. „Substanz, Klasse, fußballerisches Vermögen, Fantasie“, bescheinigte Bayers Trainer den Dortmundern. Und wenn Heynckes noch ein bisschen nachgedacht hätte, wären ihm mit Sicherheit weitere Eigenschaften eingefallen: Herz und Hirn zum Beispiel, Lust und Leidenschaft, Teamgeist, Kraft und Intelligenz.

Die Borussia des Jahrgangs 2010/11 schafft es, selbst gegensätzliche Prinzipien miteinander zu vereinen: Sie spielt den berauschendsten Offensivfußball der Liga, verdankt das laut ihrem Trainer Klopp aber vor allem der entschiedenen Bereitschaft zur Defensive. Die Mannschaft lebt von ihrem jugendlichen Elan und verfügt trotzdem über Reife. Wie die Dortmunder nach dem 1:0 gleich zu Beginn der zweiten Halbzeit die Unsicherheit der Leverkusener registrierten und für sich ausnutzten, das war nüchtern und begeisternd gleichermaßen.

Als Klopp noch Trainer in Mainz war, gab es diese akademische Diskussion, ob jemand, der nur in einem geschützten Biotop gearbeitet hat, auch als Animateur für einen Großklub wie die Bayern und deren verwöhnten Jungmillionäre tauge. Latent wurde das eher bezweifelt. Dabei ist in dieser Frage ein wichtiger Aspekt immer übersehen worden: Klopps Begeisterung für den Fußball. In Dortmund hat er für diese Leidenschaft den perfekten Resonanzboden gefunden. „Das ganze Team hat Herz“, sagt Torhüter Roman Weidenfeller. Klopps Spieler haben einfach Lust am Fußball, Freude an der Bewegung und Spaß am Gewinnen. „Sie haben immer das Stückchen Freude daran“, sagt Präsident Rauball.

Wo ist das Ende der Entwicklung? Im Moment lässt sich keines erkennen. „Ich bin überzeugt, dass die prognostizierte Krise nicht kommen wird“, sagt Verteidiger Hummels. Die Stimmung ist wieder gekippt: Seit dem Sieg in Leverkusen sind die Dortmunder wieder die Übermannschaft, die sie auch schon in der Hinrunde waren. „Die Mannschaft hat alle Möglichkeiten, auch am 34. Spieltag oben zu stehen“, sagte Heynckes. Das war in Anbetracht der Fakten defensiv formuliert. Dortmunds Vorsprung auf Leverkusen und Mainz beträgt seit gestern 13 Punkte, auf Bayern sind es sogar 16. „Wir wissen selbst, dass das ein skurriles Tabellenbild ist“, sagte Jürgen Klopp. „Aber wir können es nicht ändern.“

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