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Kultur: Überflieger aus Norden

Theater aus Tallin flog mit Lindberg über den Ozean

Theater aus Tallin flog mit Lindberg über den Ozean Gutes Kindertheater beginnt immer mit einem Geheimnis. In der Inszenierung von Bertolt Brechts „Flug über den Ozean“, gestern im T-Werk, hatte das gastierende VAT Theater aus Estland ein weißes Tuch über die entscheidende Requisite gespannt. Darunter hämmerte und rumorte es. Ein kleiner eifriger Mechaniker schaute ab und zu hervor, blinzelte zuversichtlich ins Publikum. Längst ahnten die Kinder: Das Ding unter dem Tuch ist das Flugzeug. Wie aber würde es aussehen? Und wie würde es in einem Theater über den Ozean fliegen können? Aus einem alten Rundfunkapparat in der Werkstatt krächzte die Stimme eines Reporters: „Sie fliegen allein?“ „Ja“, antwortet Charles Lindberg, „statt eines zweiten Mannes hab ich mehr Benzin dabei und statt eines Radios einen guten Kompass. ICH fliege allein!“ So ganz allein dann aber doch nicht. Als das Geheimnis gelüftet war und das alublecherne Fluggerät mit eierschalenfarbenen Flügeln, orangenem Plastiksitz und überdimensionierten Steuerknüppeln zur ersten Ozeanüberquerung von New York nach Paris abhob, begleiteten den Piloten Wind und Wetter, Angst und Freude, die Seeleute unten auf dem Meer, der innere Schweinehund, der ihm zum Schlafen verführen wollte und natürlich der Motor, meist friedlich surrend, aber auch mal stotternd und gefährlich aufjaulend. Katariina Lauk, die zuvor schon den Mechaniker mimte, gab all diesen Flugbegleitern die passende Gestalt. Mit transparenten Tüchern hüllte sie das Flugzeug in Nebel. Sie sorgte für Meeresrauschen und brüllte als schottischer Seemann gen Himmel. In Mantel und Mütze tobte sie als Sturm durch die Szenerie, kämpfte mit dem Piloten. Dann wieder war sie der rettende Geist, der mit der einen Hand das Steuer führte und mit der anderen versuchte, den auf der Tragfläche schlafenden Lindberg vorm Abrutschen zu bewahren. Eine akrobatische Slapsticknummer, die das Publikum von den Stühlen riss. Grandios auch die Vermenschlichung der sensiblen Flugmaschine, die über ein variantenreiches Geräusche-Repertoire dem Piloten zu verstehen gab, wie sie behandelt werden wollte. Hier sprach die Schauspielerin mittels einer quäkenden Entenpfeife. Stärker noch war das pantomimische Spiel, auch von Lindberg-Darsteller Tanel Saar, das völlig vergessen ließ, dass zumeist estnisch gesprochen wurde. Die beiden hätten auch chinesisch reden können – es blieben einfach keine Fragen offen. Und so mischte sich in den Jubel und die Marschmusik bei Lindbergs Ankunft in Frankreich ein tosender Applaus für ein sprühend lebendiges und leidenschaftlich gespieltes Stück Kindertheater. Antje Horn-Conrad

Antje Horn-Conrad

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