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Kultur: Alles gerät ins Schwanken Chaplins „City Lights“ begeisterte im Nikolaisaal

Von Sonja Lenz Beschwipste Musik. Ob es so etwas gibt?

Von Sonja Lenz Beschwipste Musik. Ob es so etwas gibt? Natürlich. Wenn Charlie Chaplin in „City Lights“ einen Klaren nach dem anderen trinkt, gerät auch die Filmmusik aus dem Gleichgewicht. Dreht sich, schlingert, wirft den Tramp mit Fünfvierteltakten aus der Bahn. Der Humor kommt in Chaplins Stummfilmen nicht zu kurz. Dafür haben seine Arrangeure gesorgt. Der Filmstar selbst setzte auf wohlklingende, romantische Melodien, die er selbst erfand. Witzige Musik war ihm nicht geheuer. Der große Monomane duldete keine Konkurrenz. Nicht einmal aus dem Orchester. Er konnte sich seine Eigenwilligkeit leisten. 1930 galt er als berühmtester Filmschauspieler der Welt. Nach Belieben heuerte und feuerte er die Hauptdarsteller für „City Lights“. Nach unermüdlichen Dreharbeiten verwendete er gerade einmal ein Dreißigstel des Materials. Charlie Chaplin war ein unausstehlicher, zermürbender Pendant. Und ein Genie. Das Wiedersehen mit einem seiner großen Leinwanderfolge beim „Film live“-Konzert im vollen Nikolaisaal sorgt für viel Vergnügen – und für Hörspaß mit dem Filmorchester Babelsberg. „City Lights“ erzählt die Geschichte vom Vagabunden, der sich in ein armes, blindes Blumenmädchen verliebt. Um ihr zu helfen, stürzt er sich in die absurdesten Abenteuer. Noch einmal lässt Chaplin seinen berühmten Tramp auftreten, den kleinen, abgerissenen Überlebenskünstler mit dem Spazierstöckchen und der zerbeulten Melone. Er führt ihn in die „feine Gesellschaft“ ein, die er mit hintergründigem Humor karikiert. Die sinnentleerten Instrumentalansprachen bei der Denkmalsenthüllung sind legendär. Der Millionär, der seinen besten Freund immer nur nachts in betrunkenem Zustand erkennt, hat Bertold Brecht später als Vorlage für sein Schauspiel „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ gedient. Charlie Chaplin hat seine Figuren sehr genau gekannt. Als Sohn aus einer zerrütteten Ehe von Varieté-Künstlern hat er sich in bitterer Armut durchgeschlagen, bevor er zum Star wurde. Die Stummfilm-Ära war seine große Zeit. Er hielt an ihr fest, solange es irgend ging. Mit „City Lights“ wehrte er sich noch immer gegen die Einführung des Tonfilms. Das gesprochene Wort vernichtete in seinen Augen die Kunst der Pantomime und die „Schönheit der Stille“. Um so beredter wirkt seine Stummfilmmusik. Scott Lawtons Ensemble erfüllt Chaplins Forderung nach einem „eleganten“ Orchesterklang. Zu behutsamer Sehnsuchtsmusik steht Charlie vor dem Schaufenster und betrachtet eine weibliche Statue. Es legt eine Spannungspause ein, bevor sich der Tramp dem Blumenmädchen nähert. Die Solo-Violine wird sentimental, wenn die Anbetetete allein am Fenster steht. Helle Geigentöne begleiten die Abschiedsszene der Liebenden. Das erfahrene Filmorchester nimmt die romantischen Melodien des Allround-Maestros ernst, ohne aufdringliches Pathos zu verbreiten. Nur ganz am Ende, wenn sich das Paar nach allen überstandenen Schicksalsschlägen wiederfindet, darf die Tränendrüse ein klein wenig bemüht werden. Freilich denken die Musiker gar nicht daran, das humoristische Feld dem Star ganz allein zu überlassen. Witz und Feuer stecken in den angejazzten Modetänzen, den spanischen und russischen Folklorenummern, die Arthur Johnston mit leichter Hand arrangiert hat. Die Posaune erhebt sich als Stimme des Gesetzes. Streicher im müde stockenden Walzertakt stehen für die Katerstimmung am Tag nach der ausgelassenen Party. Punktgenaues Spiel ist gefragt. Schüsse, Autohupen, Türklingeln, Schritte und die kläglichen Töne der verschluckten Trillerpfeife müssen sitzen. Kein Problem für die Babelsberger, die in den letzten zehn Jahren nicht nur zahlreiche Spiel- und Fernsehfilmmusiken eingespielt, sondern auch etliche Stummfilmkonzerte gegeben haben. Da wedelt sogar die Katze auf dem Fensterbrett mit dem Schwanz im Takt der Liebesmusik. Nur in einer Szene geht die Musik komplett unter. Wenn der Tramp abwechselnd gegen seinen Gegner und den Ringrichter boxt, ist das Orchester im Nikolaisaal abgemeldet. Dann gibt es nur noch lautes Gelächter zu hören.

Sonja Lenz

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