zum Hauptinhalt

Brandenburg: „Sie kommen nachts zwischen halb elf und halb vier“ Ein vietnamesisches Geschäft war schon neun Mal Ziel

von Anschlägen der „Rollkommandos“ von Biesenthal

von Anschlägen der „Rollkommandos“ von Biesenthal Von Jörg Schreiber Biesenthal. Die eingeworfene Schaufensterscheibe ist inzwischen erneuert worden. Nur der mehr als faustgroße Pflasterstein auf dem Fußboden erinnert noch daran, dass der vietnamesische Gemischtwarenladen in Biesenthal nordöstlich von Berlin wieder Ziel eines Übergriffs wurde. Es war der neunte nächtliche Anschlag auf das Geschäft am gut beleuchteten Marktplatz binnen eines Jahres. „Ich habe nur einen dumpfen Knall gehört und gleich nachgesehen“, erinnert sich Hauseigentümer Joachim Kuhl an den Zwischenfall aus der Nacht zum 1. September. Insgesamt fünf Steine seien geflogen. Von den Tätern sei nichts mehr zu sehen gewesen. Ein Nachbar gab der Polizei zu Protokoll, dass ein Skinhead einen Stein geworfen habe. Vorher war nach Angaben anderer Zeugen eine Gruppe Jugendlicher mit „Sieg Heil“-Rufen durch das 5000-Einwohner-Städtchen gezogen. Sie kommen immer nachts zwischen halb elf und halb vier, sagt Kuhl. Im vergangenen Jahr sei aus einer etwa 15-köpfigen Gruppe heraus randaliert worden. Doch die massive Polizeipräsenz auf dem Marktplatz habe die Jugendlichen vertrieben. Seither kämen „Rollkommandos“ von nur zwei oder drei Mann: Es fliegen Steine, dann quietschen Reifen und die Täter seien verschwunden. Für Kuhl sind die Anschläge durch Fremdenhass motiviert: Es handle sich neben einem Imbiss um den einzigen von Ausländern betriebenen Laden im Ort, sagt er. Die Steine seien am 9. November 2002 – dem Jahrestag der „Reichspogromnacht“ – ebenso geflogen wie zum „Hitlergeburtstag“ am 20. April dieses Jahres. Es gebe die Spur eines Springerstiefels, und auf den Papierkorb vor dem Haus wurde ein Davidstern geschmiert. Doch weder Kuhl noch seine vietnamesischen Ladenmieter lassen sich einschüchtern. Die zierliche Verkäuferin Tran Thi Duyen sagt, sie habe keine Angst. Sie sei aber traurig, dass solche Dinge geschehen. Seit drei Jahren arbeitet sie im Geschäft und hat schon neun Mal Scherben aufkehren müssen. „Wir brauchen die Scheiben gar nicht mehr zu putzen, sie werden immer wieder eingeschlagen“, sagt Kuhl in einem Anflug von Galgenhumor. Den Schaden ersetze zum Glück die Versicherung. Obwohl es nur selten Zeugen gibt, hat die Polizei mittlerweile einen Großteil der Anschläge aufgeklärt: Gegen fünf teils einschlägig bekannte junge Männer zwischen 16 und 22 Jahren werde ermittelt, sagt Polizeisprecher Toralf Reinhardt. Sie alle stammten aus der Gegend zwischen Bernau und Eberswalde. Jetzt liege die Sache beim Staatsanwalt. Ein weiterer Jugendlicher stehe unter dringendem Verdacht, für den Übergriff in der Nacht zum 1. September verantwortlich zu sein. Ausgangspunkt sei eine Geburtstagsfeier gewesen, exakt ein Jahr zuvor sei schon eine Scheibe im dem Laden zerstört worden. Dabei ist das beschauliche Biesenthal sonst kaum ein Hort des Verbrechens. Im ersten Halbjahr habe es nur „zwei Fälle anerkannter politisch motivierter Kriminalität“ gegeben, merkt Reinhardt an. Auch Kuhl hofft, dass das „kleine, nette Städtchen“ nicht zu einem neuen Rathenow wird. Er glaubt indes nicht, dass die Anschlagsserie vorbei ist. Die Täter kämen ja kaum in Haft, und wenn, würden deren „Freunde“ weitermachen. Frustrierend sei das schon, aber er werde sich auf keinen Fall unterkriegen lassen.

Jörg Schreiber

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false