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Seit drei Wochen gehen Iranerinnen und Iraner auf die Straße, um ihrem Unmut Luft zu machen.

© Foto: Imago/Social Media

Worum geht es den Demonstranten im Iran?: „Sie setzen auf den raschen Kollaps des Systems“

Iran kommt nicht zur Ruhe. Hier erklärt Politologin Azadeh Zamirirad die Wut der Menschen, ihre Ziele und welche Rolle die Islamische Revolution spielt.

Frau Zamirirad, die Proteste gegen das Regime und die Gewalt des Machtapparats scheinen kein Ende zu nehmen. Wohin steuert der Iran?
Das lässt sich schwer voraussagen. Aber es sind verschiedene Szenarien denkbar.

Zum Beispiel?
Zum einen ist es möglich, dass die aktuellen Proteste wie andere zuvor einfach niedergeschlagen werden. Aber sogar in diesem Fall werden die Verantwortlichen nicht mehr so weitermachen können wie vor den Unruhen. Gerade in der Kopftuchfrage haben Iranerinnen die Grenzen ein für alle Mal verschoben.

Selbst bei einem gewaltsam herbeigeführten Ende der Unruhen werden künftig häufiger Frauen zu sehen sein, die ohne Kopftuch durch die Straßen gehen oder auf der Arbeit erscheinen. Das System wird wesentlich größere Probleme haben, die Kopftuchpflicht so rigide wie bisher durchzusetzen. Denn es würde riskieren, dass es wegen der Kleidungsvorschriften wieder Proteste gibt.

Welche Szenarien sind noch vorstellbar?
Dass wir weitreichende Veränderungen sehen. Zum Beispiel, wenn der Revolutionsführer Ali Chamenei dieser Tage plötzlich verstirbt. Dann gäbe es eine völlig neue Situation, eine ganz andere Dynamik. Es könnten riesige Menschenmassen auf die Straße gehen, in der Hoffnung auf eine radikale Umwälzung.

Könnte eine solche Umwälzung denn gelingen?
Es wäre nicht auszuschließen, dass Teile des Macht- und Sicherheitsapparats sich mit den Demonstranten solidarisieren, sodass das System in der bisherigen Form kollabiert. Hier könnten sich auch tiefere Risse im System zeigen, die man von außen nicht wahrgenommen hat.

Denken Sie nur an die Revolution von 1979. Damals hatten viele erwartet, dass die Armee fest an der Seite des Schahs stehen würde. Aber es kam ganz anders. Andererseits könnte es auch zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen.

Azadeh Zamirirad arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie ist dort stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

© Foto: SWP

Gibt es noch andere denkbare Szenarien?
Es könnte immer wieder Proteste geben. Und aus diesen losen Protesten könnte so etwas wie eine soziale Bewegung entstehen, mit einem gemeinsamen Programm und landesweiten Strukturen. Das wäre sicherlich ein langwierigerer Prozess des Wandels als jener, den sich die Demonstranten derzeit wünschen. Die setzen auf einen raschen Kollaps des Systems.

War es absehbar, dass der Tod einer jungen Frau in Polizeigewahrsam und das Kopftuchtragen eine derartige Wut in der Bevölkerung auslösen würde?
Die Wut ist nicht überraschend. Es ist ja leider nicht der erste tragische Fall, der die Gesellschaft erschüttert. In den letzten sechs, sieben Jahren haben wir regelmäßig größere Proteste erlebt. Hier gibt es mittlerweile eine sehr breite, vitale Protestlandschaft. Immer wieder entlädt sich Frust der Leute.

Aus welchen Gründen?
Es gibt so viele Gründe. Da geht es mal um die Wirtschaftsmisere, um Korruption und Missmanagement oder ökologische Fragen. Aber auch um die Ungleichstellung von Mann und Frau, die Repression, die gesamte politische Ordnung.

Jede iranische Frau kennt das: Immer wieder wird man von Moralwächtern gemaßregelt.

Azadeh Zamirirad, Iran-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik

Der Wunsch nach Veränderung ist groß. Schon vermeintliche Kleinigkeiten können deshalb einen Sturm der Entrüstung auslösen. Der Fall von Jina Mahsa Amini war gerade für Frauen dazu noch besonders emotional aufgeladen.

Inwiefern?
Die junge Kurdin war in Teheran, um ihre Familie zu besuchen, als die Sittenpolizei sie wegen ihrer Bekleidung festgenommen hat. Dass sie auf so tragische Weise mitten aus dem Leben gerissen wurde, ist niederschmetternd. Neben der Angst, dass einem Schlimmes widerfahren kann, gibt es auch viel Zorn.

Jede iranische Frau kennt das: Immer wieder wird man von Moralwächtern gemaßregelt, es ist demütigend. Das erzeugt eine ungeheure Wut.

Eine in der Türkei lebende Iranerin fordert Freiheit für die Frauen in ihrer Heimat.

© Foto: Reuters/Murad Sezer

Wie weit ist der Unmut der Menschen verbreitet?
Sehr weit. Wir sehen vor allem eine Abkehr von allen politischen Kräften. Das war 2009 noch anders, während der „Grünen Protestbewegung“, als Millionen Iranerinnen und Iraner Veränderungen forderten. Die wurden von den so genannten Reformern angeführt.

Damals hofften viele, dass die Reformer einen gesellschaftlichen Wandel von innen heraus herbeiführen könnten. Die Hoffnung hat sich zerschlagen. Heute geht es den Demonstranten vielmehr darum, das System als solches zum Einsturz zu bringen.

Warum setzt die Herrscherclique um Präsident Ebrahim Raisi und Revolutionsführer Ali Chamenei allein auf Knüppel und Schusswaffen, um den Aufruhr einzudämmen?
Das ist ein gängiges Mittel des Staates, Unruhen zu unterdrücken. 2019 etwa, bei den sogenannten Benzinprotesten, kamen Hunderte Menschen ums Leben, Tausende wurden verhaftet. Aber der Staat nutzt auch andere Mittel, um die Proteste einzudämmen.

Es geht nicht mehr um Kompromisse oder Reformen, sondern die bestehende Ordnung wird kategorisch abgelehnt.

Azadeh Zamirirad, Iran-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik

Welche?
Die Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft. Gezielte Verhaftungen von Journalistinnen, Künstlern und Aktivistinnen. Oder die Beschränkung des Internetzugangs. Der Staat setzt in erster Linie auf Härte. Wir sehen keine Anzeichen dafür, dass gesellschaftlichen Forderungen in irgendeiner Form Rechnung getragen wird.
 

Bei den Protesten wird die Islamische Republik als solche immer heftiger infrage gestellt und damit auch die Revolution von 1979. Schlägt deshalb das Regime so erbarmungslos zurück?
Es ist auffallend, dass hier von Anfang Rufe wie „Nieder mit der Diktatur“ zu hören waren. Das ist ein klares Signal: Es geht nicht mehr um Kompromisse oder Reformen, sondern die bestehende Ordnung wird kategorisch abgelehnt. Dafür sind die Demonstranten bereit, ihr Leben zu riskieren.

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Auf der Straße stehen sich auch Gegner und Befürworter der Islamischen Republik gegenüber. Wie tief reicht die Kluft zwischen ihnen?
Die Kluft ist unüberbrückbar. Das liegt auch daran, dass die Anliegen der Revolution von 1979 sehr unterschiedlich waren. Damals waren massenhaft Menschen auf den Straßen, die ein autoritäres System abschaffen wollten. Die Hoffnung lag auf einer demokratischen Transformation. Viele hatten gar keine islamische Ordnung im Sinne und lehnen das bestehende System auch heute ab.

Auf der anderen Seite stehen Kräfte aus dem islamistischen Milieu, die dieses System nicht nur verteidigen wollen, sondern für die die Revolution noch gar nicht vollendet ist. Für sie muss eine „wahrhafte, authentische“ islamische Ordnung erst noch errichtet werden. Sie gehen aktiv gegen eine vermeintliche „Verwestlichung“ der Gesellschaft vor, darunter viele sehr junge, radikale Kräfte.

Das bedeutet, im Iran tobt ein Kulturkampf?
Hier prallen in jedem Fall völlig unterschiedliche Wertesysteme und Vorstellungen von einer gerechten politischen Ordnung aufeinander. Das ist ein Dissens, der sich nicht einfach so auflösen lässt. Er wird daher immer wieder zu Protesten kommen und der Staat wird massiv gegen sie vorgehen.

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