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Berlin, 15. April 2024. Aktivistinnen streichen während eines Flashmobs des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung symbolisch den Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch.

© dpa/Sebastian Gollnow

Wichtige Reformen: Die Ampel treibt gesellschaftspolitische Themen voran – das könnte ihr größtes Verdienst werden

Krisen und Kriege bestimmen die Nachrichten dieser Tage. Und die Ampel? Sie beschäftigt sich mit dem Umbau der Gesellschaft. Gut so!

Ein Kommentar von Charlotte Greipl

Muss das sein? Die Welt fürchtet einen neuen, großen Nahostkrieg, die Ukraine droht gegen Russland zu verlieren, die deutsche Wirtschaft lahmt, die AfD rechnet mit historischen Wahlergebnissen. Und die Ampel? Sie beschäftigt sich unverdrossen mit dem Umbau der Gesellschaft. Jetzt will sie das Abtreibungsrecht liberalisieren. Auch das noch.

Dieses Argument hört man oft in den letzten Tagen. Es ist so falsch, wie es gefährlich ist.

Oft wird der Bundesregierung vorgeworfen, sie reagiere nur auf Krisen und äußere Umstände. So einfach ist es nicht. Wenn die Politik jetzt vom bloßen Verwalten ins Gestalten kommt, ist das erst einmal gut. Zumal es sich bei den angegangenen Themen um Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag handelt.

Mit dem Argument, es gäbe drängendere Fragen, ließe sich fast jedes Thema von der Agenda wegdiskutieren.

Charlotte Greipl, Volontärin beim Tagesspiegel

Drei aktuelle Beispiele: In der vergangenen Woche verabschiedete der Bundestag das Selbstbestimmungsgesetz und änderte das Namensrecht.

Am Montag dann nahmen Justizminister Marco Buschmann (FDP), Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) die Vorschläge einer Expertenkommission entgegen, die eine Reform der Regeln zum Schwangerschaftsabbruch anmahnt. Sie empfiehlt, eine Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft straflos zu stellen. Auch für die Zeit danach könnte man Regeln außerhalb des Strafgesetzbuchs treffen.

Abtreibungen sind kein „Gedöns“

Dafür gibt es viel Kritik: Aber die Aufforderung, die Politik solle sich um vermeintlich wichtigere Themen kümmern, folgt dem Irrglauben, Politik sei monothematisch. Dabei gibt es Fachpolitiker und Fachausschüsse für verschiedene Themen. Warum sollte das Familienministerium die Arbeit einstellen, nur weil das Auswärtige Amt gefordert ist wie nie? Mit dem Argument, es gäbe drängendere Fragen, ließe sich fast jedes Thema von der Agenda wegdiskutieren.

Die Fragen, ob man abtreiben oder sein Geschlecht ändern kann, sind kein „Gedöns“, wie so mancher behauptet. Für die einzelne Person sind sie essenziell, und sie sagen viel über unsere Gesellschaft aus – über unser Frauenbild, unseren Umgang mit Minderheiten.

Frauen erhalten keinen Freifahrtschein

Es ist richtig, für einen Schwangerschaftsabbruch Regeln vorzusehen, um ungeborenes Leben zu schützen. Die Expertenkommission will Frauen in Sachen Abtreibung auch keinen Freifahrtschein ausstellen – auch wenn in der aufgeregten Debatte teilweise ein anderer Eindruck entsteht.

Den Schutz des Ungeborenen gilt es abzuwägen gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau, das schließt ihr Recht auf reproduktive Selbstbestimmung ein. Wenn sich zwei Grundrechte gegenüberstehen, sind sie in Ausgleich zu bringen. „Praktische Konkordanz“ nennen das Verfassungsrechtler. Kein Recht außer der Menschenwürde ist absolut, alles ist Kompromiss. Und Kompromisse müssen immer wieder neu ausgehandelt werden.

Zeit, die Stigmatisierung zu beenden

Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1993 ist Grundlage des aktuellen Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches. Darin steht: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Wer innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft nach vorheriger Beratung abtreibt, bleibt zwar straffrei, handelt aber rechtswidrig.

Frauen tun also etwas Verbotenes, etwas Strafwürdiges. Damit geht eine Stigmatisierung der Betroffenen einher, die sich ohnehin in einem schweren Gewissenskonflikt befinden. Kaum eine Frau wird einen solchen Abbruch leichtfertig durchführen lassen.

Sicher ist: Seit 1993 ist der Schutz ungeborenen Lebens nicht unwichtiger geworden. Aber unsere Gesellschaft spricht Frauen, längst überfällig, mehr Rechte zu.

Die Ampel-Regierung wird nach jetzigem Stand wohl keine zweite Amtszeit bekommen. In den vergangenen Monaten war die selbsternannte „Koalition des Fortschritts“ vor allem mit dem Management von Krisen beschäftigt. Dass sie nun wichtige gesellschaftspolitische Themen voranbringt, hinter die künftige Regierungen kaum zurückfallen werden, könnte am Ende ihr größtes Verdienst sein.

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