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Meinung: Rede des US-Präsidenten: Afghanistan ist überall

Auch in Amerika gibt es zwei Lager unter den Konservativen, das Jesus- und das Julius-Lager. Die Mitglieder des Jesus-Lagers sind Gefühls-Konservative.

Auch in Amerika gibt es zwei Lager unter den Konservativen, das Jesus- und das Julius-Lager. Die Mitglieder des Jesus-Lagers sind Gefühls-Konservative. Sie wollen, dass an der Tradition festgehalten wird, die Menschen regelmäßig in die Kirche gehen, gute Manieren haben und die moralischen Werte hochhalten. Die Mitglieder des Julius-Lagers sind Macht-Konservative. Sie wollen wie Cäsar den starken Staat, der im Inneren wie im Äußeren mit Härte regiert, seine Bürger nicht durch hohe Steuern quält und auf der internationalen Arena ausschließlich eigene Interessen vertritt. Manchmal sind Konservative mehr Julius als Jesus, Ronald Reagan war das zum Beispiel. Manchmal ist es andersherum.

George W. Bush hat sich vorgenommen, beides zu sein: Imperator und Inspirator zugleich. Deshalb hat der Präsident am Dienstag, in seiner ersten Rede an die Nation, sein zentrales Thema der Terrorbekämpfung mit einer Fülle von theologischen Metaphern aufgeladen, die an Endzeit, Erlösung und Auserwähltsein erinnern sollen. Er hat eine Brücke geschlagen zwischen Macht und Moral, die von der großen Mehrheit der Amerikaner als stabil empfunden wird. Zusätzlich hat er eine neue außenpolitische Doktrin verkündet, die in den Medien bereits "Bush-Doktrin" heißt. Im Kern besagt sie Folgendes: Afghanistan ist überall. Notfalls werden die USA alleine und präventiv jeden Krieg führen, den sie für notwendig halten. Als Begründung reicht der Verdacht, ein unliebsames Regime strebe nach atomaren, biologischen oder chemischen Waffen.

Wer geglaubt haben sollte, nach dem 11. September sei die Regierung in Washington weltoffener und rücksichtsvoller geworden, sieht sich getäuscht. Die Tendenz zum Unilateralismus, die sich mit dem Amtsantritt von Bush ungeniert Bahn brach, wurde verstärkt, wenn nicht sogar potenziert. Die Gespräche mit den Verbündeten sind keine Abstimmungen mehr, um sich auf ein gemeinsames Handeln zu verständigen, sondern Informationsveranstaltungen, auf denen Weisungen erteilt werden. Das wird keiner so deutlich sagen, auch Gerhard Schröder nicht. Aber bestreiten kann niemand, dass es selten so schwierig war, als Europäer auf US-Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Das wiegt um so schwerer, als die Entscheidungen von dramatischer weltpolitischer Bedeutung sein können.

Drei Länder hat Bush am Dienstag herausgehoben - Iran, Irak, Nordkorea. Einen Tag später wird öffentlich über Militärszenarien spekuliert. Im Falle von Nordkorea und Iran würden gezielte Raketenangriffe auf mutmaßliche Stellungen reichen, heißt es. Im Irak allerdings müsste Saddam Hussein gestürzt werden. Anschließend würde die Bevölkerung ebenso begeistert durch die Straßen von Bagdad tanzen, wie es die Afghanen in Kabul gemacht haben.

Wie schnell sich die US-Ziele geändert haben, ist beängstigend. Am Abend des 11. September hieß es, die unmittelbar Verantwortlichen für die Attentate würden bestraft. Also Osama plus Al-Qaida. Am 20. September wurde die geplante Militäraktion auf Staaten ausgedehnt, die Terror-Organisationen "mit globaler Reichweite" unterstützen. Also Osama plus Al-Qaida plus Taliban. Am 6. November schloss Bush dann zum ersten Mal auch Staaten mit Massenvernichtungswaffen in die Drohung ein. Sieben Wochen später ist die neue Doktrin ausformuliert: Die USA befinden sich nun im Krieg mit allen nichtdemokratischen Ländern, von denen entweder eine terroristische oder waffentechnologische Gefahr ausgeht. Außerdem umfasst der Kampf auch jene Terror-Gruppen, die lokal begrenzt und zum Teil aus politischer Motivation heraus agieren, wie Hamas, Jihad und Hisbollah. Also plus und plus und plus und plus.

Wenn ein Dramatiker den Hauptdarsteller im ersten Akt ein Gewehr auf den Tisch legen lässt, weiß das informierte Theater-Publikum, dass noch geschossen wird, orakelt am Donnerstag ein Kommentator in der "New York Times". Bush kann schießen, wenn er will. Er schwimmt auf einer Woge des Erfolges. Das verführt ihn dazu, gleichzeitig Julius Cäsar und Jesus Christus sein zu wollen. Doch einer muss ihn herunter holen von dieser Woge. Der amerikanische Präsident muss schleunigst daran erinnert werden, dass die Götter bislang noch jeden Übermut bestraft haben.

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