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Meinung: Der Staat muss stärker ran

Wer die Sozialsysteme retten will, muss auch bereit sein, Steuern zu erhöhen: vor allem für die, die sich bisher heraushalten

Da stehen sie nun und können nicht anders. Für Mehrwertsteuer und Subventionsabbau hat es gereicht bei den frisch gebackenen Koalitionären. Aber Rente, Gesundheit, Pflege: Wie sollen Union und SPD da bloß zusammenfinden, nach all der erbitterten Positionierung und Beschimpfung im Wahlkampf? Hier die Sozialutopisten, dort die Wegbereiter neoliberaler Kälte. Die Reform der Sozialversicherungssysteme ist der Casus Knacksus der großen Koalition. Und der Streit ums Gesundheitssystem geradezu exemplarisch: Die einen setzen auf mehr Privatisierung und Kapitaldeckung, die andern auf mehr Beitragszahler. Das scheint partout nicht zusammenzupassen. Bei der Kopfpauschale der Union soll jeder Versicherte gleich viel bezahlen, Putzfrau wie Abteilungsleiter. Bei der Bürgerversicherung der SPD sollen alle ins Boot und nach ihrer Finanzkraft zur Kasse gebeten werden. Die Befürworter der jeweiligen Lösungsideen sind sich spinnefeind. Und Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff hat schon orakelt, dass das Bündnis an diesen Differenzen zerbrechen könnte – weil Union und SPD genau „das Gegenteil“ des Koalitionspartners wollten.

Das Gegenteil? In zwei wichtigen Punkten liegen die konträr wirkenden Konzepte ganz nah zusammen. Beide wollen erstens das Ende der Systemfinanzierung ausschließlich über lohnabhängige Beschäftigung. Und beide setzen zweitens darauf, die Lasten auf mehr Schultern als bisher zu verteilen. Die großen Volksparteien sind sich also einig über wesentliche Reformziele. Dass ihre Protagonisten diese Gemeinsamkeit im Wahlkampf zu verbergen trachteten, leuchtet ein. Dass dieselben sie jetzt, in der Koalition, nicht deutlicher formulieren und als Ausgangsbasis ihrer Herkulesaufgabe nutzen, ist nicht nachvollziehbar.

Die SPD will Besserverdienenden die Möglichkeit nehmen, sich aus der Solidarität zu stehlen. Die Union will, im Ansatz zumindest, genau dasselbe: alle gemeinsam, und die Besserverdienenden ganz besonders, fürs Gesundheitssystem in die Pflicht nehmen. Nichts anderes bedeutet die Ankündigung, dass der Staat Niedrigverdienern beim geplanten Einheitsbeitrag unter die Arme greift. Der Ausgleich würde laut Union übers Steueraufkommen finanziert – und er wäre stattlich. 20 Millionen Menschen erhielten bis zu 40 Milliarden Euro. Bei den Steuern trifft es, wenn alles richtig läuft, die Reichen stärker als die Armen.

Was die SPD dagegen hat? Der Bürger würde Bittsteller des Steuerzahlers, argumentiert sie. Aber ist er dann nicht auch Bittsteller beim Kinder- oder Elterngeld, beim Wohngeld, bei allen vom Staat gewährten Freibeträgen? Man kann auch andersherum fragen: Was gefällt eigentlich der Union an dem bisherigen, europaweit einzigartigen Nebeneinander von privat und gesetzlich Versicherten? Dass das zur Rosinenpickerei der Mediziner führen muss, ist logisch und wird von ehrlichen Standesvertretern auch eingeräumt. Was hindert die Union daran, in ihr Kopfprämiensystem alle Bürger einzubeziehen, es sozusagen zur Bürgerprämie zu erweitern?

Wie gut sich die vermeintlich so konträren Konzepte vertragen, haben deren Protagonisten längst deutlich gemacht. Bert Rürup, Vater der Kopfpauschale, und Karl Lauterbach, Trommler für die Bürgerversicherung, forderten unisono ein nur scheinbar kleines Detail: Die Kindermitversicherung, bisher allein von den Beitragszahlern geschultert, müsse raus aus der gesetzlichen Versicherung und über Steuern finanziert werden. Das ist nicht nur logisch, nahe liegend und ordnungspolitisch konsequent. Es könnte auch die Richtung weisen, in die eine große Reform gehen muss. Bei immer weniger Vollerwerbsbeschäftigten ist Gerechtigkeit nur noch über mehr Steuerfinanzierung möglich. Gerade Familienförderung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die demografischen Probleme betreffen nicht nur die Beitragszahler. Alle sollten dafür geradestehen – auch und gerade diejenigen, die mehr Geld haben und es nicht durch abhängige Beschäftigung verdienen.

Das Gesundheitsministerium freilich hat nichts Besseres zu tun, als empört abzuwinken. Man wolle nicht mehr Steuerfinanzierung, man wolle sie auf null zurückfahren. Nein, das ist kein Blackout, das steht so tatsächlich im Koalitionsvertrag: Bei der Rente sollen die Staatszuschüsse eingefroren, in der Krankenversicherung sogar komplett gestrichen werden. Hier sind wir also bei der zweiten Seltsamkeit: Union und SPD verbergen nicht nur die Gemeinsamkeit ihrer Konzepte, die auf mehr Solidarität hinauslaufen könnte. Sie konterkarieren sie auch gleich wieder – und das Ziel der Beitragsstabilität gleich mit.

Ohne Frage haben die Haushälter die Sozialpolitiker hier über den Tisch gezogen. Doch mit den Geldnöten des Staates lässt sich dieses Manöver nicht begründen. An anderer Stelle im Koalitionsvertrag steht nämlich durchaus Vernünftiges: „CDU, CSU und SPD stellen sicher, dass die Lohnzusatzkosten (Sozialversicherungsbeiträge) dauerhaft unter 40 Prozent gesenkt werden.“ Niedrige Arbeitskosten haben viele Vorteile: Sie geben Beschäftigungsimpulse, befördern über höhere Nettolöhne Konsum und Binnenkonjunktur, verhindern die Flucht in auskömmlichere Schwarzarbeit. Wenn nun aber die Zuschüsse fürs Sozialsystem gesenkt werden, geschieht das Gegenteil. Denn dann steigen die Beiträge.

Am deutlichsten ist dieser Zusammenhang im Rentensystem. Im Gesundheitssystem gibt es noch Sparmöglichkeiten: Wettbewerb, Transparenz, Prävention – das kann und muss man intensivieren. Und auch der Pharmaindustrie sollte stärker auf die Finger geklopft werden. Bei der Rentenversicherung jedoch ist alles ausgereizt. Sinken ihre Einnahmen weiter oder halten sie nicht mit den Ausgaben Schritt, gibt es nur drei Möglichkeiten. Erstens: Man streicht die Renten noch stärker zusammen – was die Koalition nicht will. Zweitens: Man lässt die Beiträge steigen – was die Koalition auch nicht will. Bleibt also nur, drittens, die Erhöhung der Staatszuschüsse. Wenn die Verantwortlichen auch hier den Kopf schütteln, erinnert das an das Verhalten eines trotzigen Kindes. Der einzige, mühsam aufs Papier gebrachte Lösungsvorschlag, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre, ist nämlich keine Lösung. Sie wirkt, wie die gerade erst begonnene Kapitaldeckung via Riesterrente, nur langfristig, bringt aber in den nächsten Jahren mit Sicherheit kein Geld in die leeren Kassen.

Anders, als vielfach dargestellt, sind die Staatszuschüsse auch kein Almosen für die Sozialversicherung. Sie leisten (ein wenig, längst nicht genug) Wiedergutmachung für all die versicherungsfremden Leistungen, die den Beitragszahlern aufgebrummt worden sind. Kindererziehungszeiten in der Rente, Arbeitsmarktpolitik, Ostrenten ohne vorausgegangene Beitragszahlung. Privatiers, Selbstständige und Spitzenverdiener sind bei alledem fein raus – und sollten sich zumindest als Steuerzahler beteiligen.

Beim Gesundheitsmodernisierungsgesetz 2004 schien sich die Politik endlich zu dieser Sichtweise durchgerungen zu haben. Über die Tabaksteuer, die ja in unmittelbarem Zusammenhang mit Gesundheitsausgaben steht, sollten versicherungsfremde Leistungen wie das Mutterschaftsgeld gegenfinanziert werden. Doch die Einsicht währte nicht lange. Nach nur einem Jahr folgt schon der Kurswechsel, wie so oft in der Gesundheitspolitik, diesmal aber sogar unter derselben Ministerin. Es ist wie ein unkontrollierbarer Reflex: Der Staat braucht Geld, und der Steuerhahn wird wieder zugedreht.

Als ob aus den großen Fehlern bei der Wiedervereinigung nichts gelernt worden sei. Es gibt Ökonomen, die behaupten, dass unser Sozialversicherungssystem ohne den damaligen tiefen Griff in die Sozialkassen nicht in die aktuelle Schieflage gekommen wäre – trotz Arbeitslosigkeit und steigenden Gesundheitskosten. Keine Frage, dass das Geld für Krankenversicherungsschutz und angemessene Renten der neuen Bundesbürger aufgebracht werden musste. Aber warum landete dieser Posten bei den Beitragszahlern, warum kam nicht die Allgemeinheit dafür auf? Laut des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) entstand zwischen 1991 und 1997 durch Auszahlungen an Bürger der neuen Bundesländer eine Unterdeckung von 75 Milliarden Mark. Im anderen Fall hätte die Rentenversicherung in jedem dieser Jahre einen Überschuss erzielt. Lakonischer Kommentar der Wirtschaftsexperten: In keiner anderen Versicherung sei es möglich, „nach Eintritt des Schadens Mitglied einer Schadensgemeinschaft zu werden“. Genau dies aber wurde der Sozialversicherung zugemutet.

Dabei ist das eigentliche Problem noch gar nicht eingetreten: die Alterung der Gesellschaft und die dadurch rapide sinkende Zahl von beitragspflichtigen Beschäftigten. Im Jahr 2040 sind in Deutschland Expertenprognosen zufolge zehn Millionen Menschen weniger im arbeitsfähigen Alter, dafür aber neun Millionen mehr im Rentenalter. Kombiniert mit den Kosten des medizinischen Fortschritts, kommt da eine bedrohliche Zusatzbelastung aufs Gesundheitssystem zu. Und was die Rentenversicherung betrifft: Heute arbeiten vier Personen, um einen Rentner zu ernähren, 2040 werden es nur noch zwei sein.

Also: Der Staat muss stärker ran. Zuschießen, Leistungen ins Steuersystem (zurück-)verlagern. Auch aufgrund des Demografieproblems. Familien sind in unserem Staat viel zu hoch belastet, Kindererziehung ist in einem zunehmendem Maße eine Armutsfalle. Doch ohne Kinder, also nachwachsende Beitragszahler, bricht das Umlagesystem zusammen. Dem kann dadurch abgeholfen werden, dass einerseits die steuerlichen Freibeträge für Familien deutlich erhöht werden, andererseits Besserbemittelte die Sozialbeiträge für Kinderreiche, etwa bei der Renten- oder Pflegeversicherung, über ihre Steuer zumindest teilweise mitübernehmen. Dies entspräche im Tenor auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Die Alternative hierzu wäre ein offenkundiges Splitting, wie es kürzlich das Münchner Ifo-Institut vorgeschlagen hat. Danach würden Rentenkürzungen und das kompensierende Riestersparen allein auf die Kinderlosen fokussiert. Wer sein Geld nicht für Kindererziehung ausgebe, dem könne zugemutet werden, es für seine Rente auf dem Kapitalmarkt anzulegen, argumentiert Ifo-Präsident Hans- Werner Sinn. Dass dies sonderlich populär oder auch nur politisch durchsetzbar wäre, ist zu bezweifeln. Dem gesellschaftlichen Zusammenhalt förderlich wäre es in keinem Fall.

Höhere Staatszuschüsse widersprechen nicht der Notwendigkeit, den Haushalt zu sanieren. Im Gegenteil: Wenn der Staat endlich alle nach ihrem Vermögen für die wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben in die Pflicht nimmt, tut er sich Gutes. Sogar wenn er darüber hinaus seine Sozialversicherungssysteme tatsächlich subventioniert. Und sich daneben am Aufbau eines zusätzlichen privaten Kapitalstocks mitbeteiligt – mit der Riesterrente ist ja ein Anfang gemacht. Niedrigere Beiträge verbilligen die Arbeit, sie helfen der Konjunktur auf die Beine. Die Steuern sprudeln dann wieder kräftiger. Und die gesellschaftlichen Folgekosten eines nicht mehr funktionierenden Sozialsystems und Sozialausgleichs bleiben dem Gemeinwesen auch erspart.

Wenn Arbeit Vorfahrt hat, haben auch niedrige Sozialbeiträge Vorfahrt. Dabei muss der Staat helfen – und dies als Investition verstehen. Noch vor 35 Jahren machten die Sozialabgaben in Deutschland weniger als 30 Prozent aller staatlichen Zwangsabgaben aus. Inzwischen liegt die Quote bei 45 Prozent. Die volkswirtschaftliche Steuerquote hingegen ist die zweitniedrigste in Europa.

Niedrige Arbeitskosten sind wichtiger als niedrige Steuern. Was nicht dazu verleiten sollte, alles über Verbrauchssteuern lösen zu wollen. Geringverdiener und Familien sind längst über Gebühr belastet. Es geht um diejenigen, die sich bisher heraushalten. Man muss sie nicht in eine Versicherung zwingen, die sie nicht wollen. Aber sie sollten den sozialen Ausgleich dann wenigstens über ihre Steuer mitfinanzieren. Es geht also auch um Kapitalerträge, um Aktiengewinne, Sparguthaben, Erbschaften. Es geht um nichts Geringeres als um die Neudefinition von Solidarität. Eigenartig, dass sich gerade die Volksparteien damit so schwer tun.

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