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Protestierende vor der Knesset in Jerusalem am 23. Juli.

© IMAGO/NurPhoto/Gili Yaari

Umstrittene Justizreform : Die anti-jüdischste Regierung, die es je in Israel gab

Es geht in Israel gerade um viel mehr als eine Justizreform: um die ständige Verhandlung des Jüdischen mit dem Demokratischen, um das Weiterleben in einer uneindeutigen Welt. Ein Essay.

Von Natan Sznaider

„Weh den Sorglosen auf dem Zion und den Selbstsicheren auf dem Berg von Samaria“ (Amos 6,1).

Das steht in der israelischen Unabhängigkeitserklärung vom Mai 1948:

„Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.“

Der israelische Staat deklariert sich als sicherer Hafen für die Juden. Sie sollen nie wieder Opfer sein. Es ist ein widersprüchliches Dokument, denn der Staat Israel wurde und wird dadurch zu einer partikularen Lösung eines partikularen Problems. Denn es war gerade die partikulare jüdische Erfahrung, nirgends auf der Welt willkommen zu sein, die den Staat Israel nötig machte. Ein sicherer Ort sollte geschaffen werden, der auch dann vor dem Opfersein schützt, wenn alle anderen Orte unerreichbar werden.

Dieser Ort wird nun von den Juden selbst kontrolliert. Die Modalitäten dafür müssen ständig neu verhandelt werden. Diese überhaupt nicht universelle Haltung zur Welt ist bis heute eine schwer erträgliche Zumutung in einer Gesellschaft gleicher Freiheits- und Rederechte. Denn das Problem einer lebendigen Mitmenschlichkeit besteht darin, wie weit man einer gemeinsamen Welt auch dann noch verpflichtet ist, wenn man aus ihr verjagt wurde oder sich aus ihr zurückgezogen hat.

Das Prinzip Hoffnung

Wie das Partikulare und Universale gemeinsam gelebt werden können, auch wenn man es oft nicht gemeinsam denken kann, war und ist bis heute eines der Dilemmata der jüdischen Welt. Und es wäre zu einfach zu sagen, dass Universalisten moralische Helden und Partikularisten Bösewichte sind. Dass die einen den Standpunkt der universellen Vernunft und die anderen den Standpunkt der partikularen Gruppe einnehmen.

Gerade für Juden und Jüdinnen in und außerhalb Israels ist Identität Teil ihres Lebens. Dies ist kein engstirniger Blick. Es ist ein jüdischer Blick, der es ermöglicht, sich selbst und die Welt mit den Augen der anderen zu sehen. Er ist geprägt von der eigenen Geschichte und der besonderen Rolle, die die Hoffnung darin spielte. Israel wurde nicht nur, aber auch aus dieser Hoffnung heraus gegründet. Sogar die Hymne des Landes handelt vom Prinzip Hoffnung. Juden sehnten sich nach einer neuen, gesicherteren Hoffnung.

Auch historisch war es die Balance zwischen Autorität und Machtlosigkeit, die die Geschichte mit dem Staat Israel verband. Die Selbstbegrenzung der staatlichen Souveränität, die die Propheten forderten und die sich in der Gewaltenteilung demokratischer Staaten niederschlägt, ist einer der Grundkonflikte dieses Staates seit seiner Gründung vor 75 Jahren. Das konstituierende Dokument der Staatsgründung Israels beruft sich auf die Propheten Israels.

Es ist dieses Dokument, dass die Demonstrierenden in Israel, die seit einem halben Jahr jeden Samstag und auch an anderen Tagen auf die Straße gehen, als Gründungsnachweis ihrer Bewegung gegen die Machtübernahme der rechtsradikalen und klerikalen Regierung sehen. Das ist auch der Grund für das Meer israelischer Flaggen bei den Demonstrationen.

Es geht tatsächlich um viel mehr als um eine Justizreform. Das ist die Ausrede der Regierung und ihrer Sprachrohre. Es geht um die ständige Verhandlung des Jüdischen mit dem Demokratischen. Es ist eine Neuauflage des Konfliktes zwischen Königen und Propheten, die man aus der Schrift kennt, dass die Souveränität ihre Grenzen haben muss.

Gegen jüdischen Fundamentalismus

Die Demonstrierenden in Israel erinnern an die jüdische Tradition jenseits der Souveränität. Sie erinnern an die universale Tatsache, dass Machtausübung einen Preis hat, dass es in Israel Rassismus und Grausamkeit gibt, den diese Regierung als deklarierte Politik durchsetzt. Dass der Staat mit seiner ständigen Kampfbereitschaft und deren Folgen auf vielen Ebenen teuer für die Freiheit zahlt – dass die Ausübung politischer Souveränität auch um den Preis des Verlusts der Unschuld erfolgt. Die jetzige Regierung will diese ständigen Verhandlungen aussetzen. Es ist die anti-jüdischste Regierung, die es je in Israel gab.

Die Demonstrierenden haben sich in den letzten Wochen radikalisiert. Mehr und mehr junge Menschen sind bereit, für ihre Freiheit und die Zukunft ihres Landes zu kämpfen. Sie erinnern an die liberale Grundhaltung, der zufolge bei politischem Handeln immer auch das Individuum zu seinem Recht kommen muss, nicht allein die Gruppe oder das Kollektiv. Sie tun es furchtlos und stellen sich der Polizei und deren Wasserwerfern in den Weg, bereit das „subversive“ Dokument der israelischen Unabhängigkeitserklärung gegen den rechten Extremismus zu verteidigen. Es ist keine gleichgültige Jugend, sondern eine, die den zweiten Unabhängigkeitskrieg in Israel führt.

Es geht auch nicht mehr um die Vorherrschaft des Jüdischen, sondern gegen die Vorherrschaft eines jüdischen Fundamentalismus, der dem Judentum eigentlich fremd ist. Dabei geht es nicht um Brüderlichkeit, wie sie jetzt von den Rechten beschworen wird, sondern um Bürgerlichkeit, die einen Raum begründet, in dem Widersprüche möglich sind.

Dafür gehen die Menschen hier wöchentlich auf die Straße. Anders als die Regierenden wollen sie in einer uneindeutigen Welt leben. Für die jüdischen Menschen in Deutschland kann das nur heißen, dass wer von der israelischen Situation nicht reden will, auch von den Gefahren der AFD schweigen soll.

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