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Motiv aus der Ausstellung von Oleksandr Glyadelov.

© Oleksandr Glyadelov

Ukrainisches Kriegstagebuch (200): Der Abschied der Slawin

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

11.4.2024
Bevor Oleg Sosnow mich letzte Woche anrief, war mir die Existenz von Montageecken und Montagestreifen unbekannt. Doch kurz darauf begab ich mich auf den Weg zum Künstlerbedarfsgeschäft am anderen Ende der Stadt, um mir Montageecken anzusehen, erwarb sie und bestellte auf dem Heimweg gleich die passenden Montagestreifen online.

Einander vorgestellt hat uns vor etwa zwölf Jahren Kirill Protsenko, herausragender Künstler, den Kritiker als Rockstar der ukrainischen Kunstwelt bezeichneten und als Goldstandard für Eleganz. Mit Kirill, der leider nicht mehr unter uns weilt, waren wir beide befreundet. Als er uns miteinander bekannt machte, war er 45, also 20 Jahre älter als Oleg, den er liebevoll „der Kleine“ nannte.

Seit 2017 mache ich in Kyjiw oft Station in der Wolodymyrska-Straße bei Oleg, der nicht nur ein perfekter Gastgeber, sondern auch noch ein begeisterter Kunstsammler und Kurator ist. In seiner Wohnung erwartet mich immer eine Schau von Werken ukrainischer Künstler*innen, deren Zahl in Olegs Sammlung stetig zunimmt.

In letzter Zeit ist mir aufgefallen, wie sich die Sammlung meines Freundes zunehmend um Arbeiten zeitgenössischer Fotografen erweitert. Insbesondere das Werk von Oleksandr Glyadelov sticht hervor, eines seiner Bilder zierte bereits vor einigen Jahren die Wand im Eingangsbereich vor Olegs Wohnungstür.

Eine Marschmelodie wird zum Invasionssoundtrack

Beim letzten Telefonat erwähnte Oleg ein neues Projekt mit Fotos von Glyadelov, an dem er derzeit als Kurator arbeitet, und bat mich um Unterstützung bezüglich der Montageecken und -streifen für die Ausstellung. Ich dachte sofort an Dezember 2022 – bei meiner ersten Reise in die Heimat nach dem Beginn der Groß-Invasion russlands hatte ich zwei von Glyadelovs Leica-Kameras in meinem Koffer.

Ende März, acht Monate zuvor, waren sie durch die Druckwelle beschädigt worden, als der Fotograf im verwüsteten Irpin bei Kyjiw die Evakuierung der Zivilisten über die zerstörte Brücke fotografierte, die unter dem Dauerfeuer russischer Besatzungstruppen stand. Die Kameras wurden zwar in Deutschland repariert, aber sie per Post zu schicken wäre zu riskant gewesen und daher bat mich Oleg, sie persönlich mitzunehmen, als ich in die Ukraine fuhr, um sie dort zu übergeben.

Aufnahme von Oleksandr Glyadelov.

© Oleksandr Glyadelov

Dank meiner Freundschaft mit dem Kurator kann ich die Bilder der Ausstellung, die erst nächste Woche eröffnet wird, bereits online betrachten. Ich gestehe Oleg, ich hätte auch dieses Mal die Lieferung gerne selber übernommen, um mir die Schau in Kyjiw anzuschauen, habe aber leider im Moment viel zu tun.

Das Projekt, das Glyadelov und Sosnov bei der Stedley Art Foundation präsentieren, heißt „Der Abschied der Slawin“. Der Titel bezieht sich auf einen der bekanntesten russischen Märsche, der zu Sowjetzeiten bei Militärparaden gespielt wurde und auch auf den Bahnhöfen erklang, bevor die Züge nach Moskau abfuhren.

Noch immer verlassen Züge mit Militärangehörigen russische Bahnhöfe zu den Klängen von „Der Abschied der Slawin“, und heute ist diese Melodie immer häufiger zu hören. In den letzten 30 Jahren hat sie sich zu einer Art Soundtrack der imperialen Übergriffe des modernen russlands entwickelt. „Die Bedeutung des Stücks hat sich für den Autor in den letzten Jahrzehnten radikal verändert“, schreibt Oleg Sosnov im Begleittext zur Ausstellung. „Von einem Siegesmarsch während des Zweiten Weltkriegs ist sie zur Begleitung von militärischer Aggression, Besatzung und Zerstörung geworden.”

Glyadelovs Schwarz-Weiß-Fotografien, die er während der verschiedenen Kriege russlands im postsowjetischen Raum aufgenommen hat, sind mehr als bloße Reportage, sie sind hochkonzentrierte Geschichte. Moldawien, Tadschikistan, Aserbaidschan, Tschetschenien, Ukraine. Leid und Trümmer, zerstörtes Militärequipment, junge Menschen in Uniform, die in den Krieg ziehen.

Auf nahezu allen Bildern spüre ich die Präsenz des Todes, seinen Schatten, der um die Ecke lauert. Das russische Imperium sät überall Tod und hinterlässt eine blutige Spur, während im Hintergrund ohrenbetäubend laut „Der Abschied der Slawin“ erklingt.

Dies ist der letzte Teil von Yuriy Gurzhys Kolumne für den Tagesspiegel, für den er auch weiterhin als Autor tätig sein wird. Das Kriegstagebuch wird er hier fortführen.

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