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Die österreichische Schriftstellerin Raphaela Edelbauer

© Getty Images / Thomas Lohnes

Raphaela Edelbauers Roman „Die Inkommensurablen“: Das Schicksal der Schlafwandler

Historischer Roman, Krimi, soziologische Untersuchung, atmosphärischer Wien-Roman: Raphaela Edelbauer spielt in ihrem neuen Roman abermals mit Genre-Konventionen

Am 31. Juli 1914 stellte Deutschland dem Zarenreich ein Ultimatum. Die russische Mobilmachung sei sofort zu stoppen, anderenfalls würde auch das Deutsche Reich zu den Waffen rufen. Raphaela Edelbauers neuer Roman spielt in diesen letzten Stunden vor der Katastrophe. Einen Tag und eine Nacht verfolgt sie drei junge Menschen auf ihrem Streifzug durch Wien. Die Hauptfigur Hans, ein Knecht aus Tirol, wird von der Aufbruchsstimmung der Juli-Krise in die Stadt gespült. In einer Zeitung hat er die Annonce einer Psychoanalytikerin entdeckt, von der er sich nun Heilung von einem Leiden verspricht, das ihn schon sein ganzes Leben lang quält. Er glaubt, Gedanken lesen zu können.

Auch Adam, Abkömmling einer alten Offiziersfamilie, ist mit einer übernatürlichen Gabe geschlagen. Er hat Visionen historischer Schlachten. Plastische Erinnerungen längst gefallener Soldaten quälen und faszinieren ihn zugleich. Und dann wäre da noch Klara. Sie hat sich aus ärmlichsten Verhältnissen hochgekämpft, engagiert sich bei den Suffragetten, liebt Frauen und schreibt an ihrer Doktorarbeit in Mathematik.

Die drei treffen in der Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufeinander, die zu kollektiven Träumen forscht. Aus allen Ecken des Landes schicken ihr Kollegen Berichte von Patienten, die im Schlaf denselben Ort aufsuchen. Nacht für Nacht finden sie sich eingesperrt in den Häusern eines kleinen Dorfs wieder. Alle sind sie besessen vom Wunsch, aus ihren Gefängnissen auszubrechen, ein Lüster im Herrenhaus des Dorfes zieht sie unwiderstehlich an. Doch jeder Versuch der Annäherung scheitert. Klara ist die einzige Schläferin, die sich im Dorf frei bewegen kann, ein Vermögen, das sie tagsüber in Lebensgefahr bringt.

Für ihren Roman „Dave“ bekam Edelbauer schon den österreichischen Buchpreis

Schon mit ihren ersten beiden Romanen spielte Raphaela Edelbauer ebenso unterhaltsam wie selbstbewusst mit Genrekonventionen. Für „Dave“, den Vorgänger, erhielt die 1990 geborene Wienerin den Österreichischen Buchpreis. „Die Inkommensurablen“ ist nun eine klug komponierte Melange aus historischem Roman, Krimi und soziologischer Untersuchung. Im Forschungsprojekt der Analytikerin wie im Roman geht es um die Frage, wie Menschen zueinander finden, wie sie ihre Träume und Albträume, ihre Ängste und Begierden synchronisieren. Und davon ausgehend, wie es passieren konnte, dass sich in wenigen Wochen die Völker Europas bereiterklärten, Millionen ihrer Söhne auf die Schlachtfelder zu schicken.

„Schlafwandler waren sie“, heißt es an einer Stelle. Gemeint sind die drei nervösen Bohemiens, die gerade berauscht und erschöpft aus einer Drogenhöhle tief in der Kanalisation zurück ins Sonnenlicht klettern. Man denkt jedoch sogleich an Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“, das den Weg in den ersten Weltkrieg nachvollzog.

Die These des Historikers: Keine der beteiligten Mächte wollte den Krieg, doch interpretierten die führenden Politiker die Lage so, dass sie für sich keine Möglichkeit sahen, ihn zu verhindern. Allen schienen die eigenen Hände gebunden, niemand sah sich in der Verantwortung. Eine Dynamik der Eskalation ergriff sie und engte das Repertoire politischer Maßnahmen immer weiter ein.

Die Autorin bezieht diese These auf ein Fußvolk, das nur allzu gern bereit ist, das eigene Urteilsvermögen zu beschränken und seine Selbstbestimmung Konzepten wie Volk, Kaiser und Vaterland zu opfern. Die Aufklärung versinkt in Hurra!-Rufen. Freilich ist dieser Blick auf den Kriegsbeginn nicht neu. Die Aufnahmen fanatischer Freiwilliger dürfen in keiner Betrachtung des Weltkriegs fehlen. Pflichtschuldig bringt Edelbauer auch den in diesem Zusammenhang unverzichtbaren Satz unter, man sei Weihnachten ja schon wieder zu Hause.

Anregend ist dieser Roman gleichwohl, weil bei Edelbauer die Kriegsbegeisterung nur eine Variante unter vielen ist, in der sich das Verlangen nach Bestätigung ausdrückt. Auch das Übernatürliche, das Adam und Hans in sich vermuten, ebenso wie die Freundschaft der traurigen Helden, die Hans nach einer durchwachten Nacht in Salons, Kaschemmen und Kaffeehäusern als größte Erfahrung erscheint, sind Beispiele für Kräfte, die dem Einzelnen verheißen, über die eigene dumme Existenz hinauswachsen zu können.  

Nicht zuletzt legt die Autorin einen atmosphärischen Wien-Roman vor. Die alte Stadt ist zu langsam gewachsen für all die Menschen, denen sie ein Glück verspricht. Da sind zu viele Menschen, da ist zu viel Sehnsucht in den engen Gassen. Edelbauers Wien ist ein Bienenkorb an Leidenschaften, Glaubenssätzen und Ideologien, ein Wimmelbild aus Lebensentwürfen, die sich mehr noch als nach ihrer Verwirklichung nach Ruhe sehnen, danach ihre überschießende Energie im Einsatz für eine Sache zu kanalisieren.

„Man war endlich nicht mehr man selbst. Man war endlich Österreicher oder sogar Deutsch-Österreicher, und für lange Zeit würde man es nicht mehr aufhören zu sein.“ Auf den letzten Seiten ist das Ultimatum abgelaufen, das Volk versammelt sich noch einmal in Massen auf den Straßen, um schon bald dem Feind entgegenzuziehen. Die Großstadt hat das Individuum geboren, doch sie sollte es nicht aufwachsen sehen.

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