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Kultur: Gott im Schlafrock

Lassen Sie uns über eine ernste Sache reden: diese Mädchen an der Schwelle der Pubertät, die nicht erwachsen werden wollen. In schlimmeren Fällen verweigern sie sich physisch der Entwicklung ihres Körpers und bekommen Bulimie.

Lassen Sie uns über eine ernste Sache reden: diese Mädchen an der Schwelle der Pubertät, die nicht erwachsen werden wollen. In schlimmeren Fällen verweigern sie sich physisch der Entwicklung ihres Körpers und bekommen Bulimie. Die anderen flüchten in eine Traumwelt, tapezieren sich ihr Zimmer mit Bildern von Boygroups und Pferdepostern voll. Daphne ist so ein Mädchen: Sie hat als Kind irgend etwas erlebt, das ihr eine Idee von der Bedrohlichkeit der Männerwelt eingegeben hat, konnte aber nicht darüber reden. Jetzt, während des Vorspiels zu ihrer Oper, hält sie zum einlullenden Holzbläser-Idyll zwar noch ganz behaglich auf ihrer Art-Déco-Liege ein Nickerchen, doch gleich, wenn die alphornartigen Rufe aus dem Bühnenhintergrund erschallen werden und es aus dem Orchestergraben verhalten stürmisch heraufpaukt und -blitzt, wird das ins Unterbewußtsein Verdrängte als Alptraum hochkochen und sich hinter dem Gazevorhang als ungemütliche Traumsequenz abspielen.

Eigentlich nicht gerade ein herkömmlicher Opernstoff, aber zumindest ein zeitloser. Denn solche Mädchen hat es schon bei den alten Griechen gegeben, die sich diesen Mythos ja schließlich ausdachten. Und solche Mädchen hat es natürlich auch zu Lebzeiten von Richard Strauss gegeben, der sich 1936 an die Vertonung des Stoffes machte. Damals, im Zeichen von Reichsparteitag und Berliner Olympiade, wird er sich freilich auch seine Gedanken gemacht haben über die möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Pubertätswehen: Wie leicht sich so ein Entfremdungsgefühl in blinde Schwärmerei umlenken läßt, wie schnell das introvertierte Naturkind von eben auf einmal mit dem BDM-Signet auf dem Turnhemd dahermarschiert. Komponiert hat Strauss diese Gefahr allerdings nicht, getreu dem mythologischen Vorbild verholzt seine Daphne am Ende der Oper, zieht sich Vokalisen singend zu funkelndem Geigengeschwirr in eine vegetative Existenz zurück.

Dieses auf Dauer wohl doch etwas langweilige Schicksal erspart Anthony Pilavachi der Daphne seiner Inszenierung an der Deutschen Oper. Da wird das Mädchen zwar wie vorgesehen zum Baum, reckt die Arme in die Höhe und streckt die Finger einzeln aus als wären sie sprießendes Blattwerk, doch das nur vorübergehend. Sobald Gott Apoll, der sie vor einer guten Dreiviertelstunde vergewaltigt hatte, hinzutritt, entscheidet sie sich anders und geht mit ihm fort. Ihre Stelle nimmt eine andere Daphne ein, die sich in einem telefonzellenartigen Glaskasten krümmt. Zu den eskapistischen Vokalisen am Ende tritt dann noch einmal Apoll im blauen Schlafrock auf die Bühne, spielt nachdenklich mit dem Bonsai-Bäumchen, das vorher Daphnes liebstes Spielzeug war - für ihn war die ganze Sache nicht mehr als eine Episode.

Mächtig viele Einfälle drängen sich da in der Opernzielgeraden und konkurrieren miteinander während zuvor über weite Strecken der assoziative Ideenfluß Pilavachis schon fast versiegt schien. Eine reale Geschichte will er auch gar nicht erzählen, der an eine Sommerterrasse erinnernde Mosaikfußboden im Vordergrund, die weißleinenen Kostüme Jutta Delormes und die Art-Déco-Chaiselongue müssen dem Zuschauer als Ankerpunkte reichen. Doch Pilavachi verlegt seine "Daphne" ohnehin ins Alptraumland der Phantasie, konkret auf eine violett angestrahlte Schotterpiste und in Dieter Richters postkartenblauen Bühnenraum. Ein Land, in dem sich reale und groteske Erscheinungen untrennbar durchdringen, Hausmädchen plötzlich zu goyaesken Hexen mit roten Ketzermützen werden, wo einer eben noch als Gott das Universum erbeben läßt, um sich gleich darauf einen Schlafrock überzustreifen.

Der Rückgriff aufs Unterbewußtsein und seine freien Assoziationen ist freilich nicht ungefährlich: Ohne starke Bildlösungen wirkt das Bühnengeschehen schnell beliebig, erst recht, wenn - wie in Pilavachis Inszenierung - dem surrealistischen Anspruch des Bühnenbildes eine erschreckend konventionelle, ja hölzerne Personenführung gegenübersteht. Das "Jetzt gehst Du hierhin und dann krümmst Du Dich" des Regisseurs bleibt deutlich spürbar, auch weil Pilavachi zum Überzeichnen neigt und zwischen viel Leerlauf nur Einzelheiten in Szene setzt.

Die Nicht-Entwicklung der Bühnenfiguren hat zur Folge, daß die Sänger hauptsächlich sich selber spielen und damit mehr oder weniger in ihre Rollen passen. Bei Roberto Saccás Leukippos geht das immerhin prächtig auf: Sein lyrischer Tenor besitzt die Frische und Direktheit, die auf den gerade erwachsen gewordenen thessalischen Landjungen paßt. Das Schwächen des Librettos, die schwülstig antikisierenden Verse, überspielt er, indem er die dahinterstehenden Emtionenen, das Verlangen und den Zorn über die Zurückweisung, herausstreicht. Das bildet stilistisch einen optimalen Kontrast zu John Horton Murrays Apollo, der schon seine Auftrittsphrase so leicht und kultiviert singt, als gälte es, dem Landvolk zu zeigen, was ein richtiger Dandy ist. Mit beeindruckender Souveränität in der Stimmführung - einige kleinere Intonationsschwächen in der tiefen Lage abgerechnet -, mit einer strahlenden tenoralen Höhe streift dieser Apoll das Sensationelle.

Für Nancy Gustafson in der Titelpartie bleibt die Daphne dagegen eine fremde Figur. Statt eines Mädchens, das nicht erwachsen werden möchte, singt da eine kraftvolle (und etwas angestrengte) Frau, deren Verzweiflung nicht mehr die notwendige kindliche Hilflosigkeit besitzt. Die Nebenrollen sind durchweg präsentabel besetzt - ebenso wie das hochkonzentrierte Orchesterspiel ein Anzeichen für den frischen Wind, der seit dem Amtsantritt Christian Thielemanns durch das Haus weht. Und Thielemanns einhellig bejubeltes Strauss-Dirigat übertrifft noch seine "Frau ohne Schatten" zu Saisonbeginn. Souverän balanciert er Bühne und Orchestergraben aus, ohne deshalb den gewittrigen Ausbrüchen des Orchesters ihre Wirkung zu nehmen. Das setzt einen betont schönen, fließenden Klang, aus dem die solistischen Episoden natürlich emporwachsen. Musikalisch eine gelungene Abschlußpremiere für die Deutsche Oper, szenisch ein weiterer Beleg dafür, wie dringend Regisseure wie Decker, Hilsdorf und Konwitschny in diese Stadt geholt werden müßten.

JÖRG KÖNIGSDORF

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