zum Hauptinhalt

Kultur: Goethe, gaga

Münchens Kammerspiele kämpfen mit der Klassik

Immer aufregend eigentlich, für den, der das Theater liebt, ob Thoas, der Barbar, es am Ende von Goethes „Iphigenie“ schafft, seinen leicht pampigen Abschiedsgruß „So geht!“ doch noch in ein akzeptables „Lebt wohl!“ umzuwandeln. Spannend vor allem, wie er das tut, denn Thoas kann die Formel relativ neutral sprechen, oder noch wütender als das „Lebt wohl!“, oder in einem Augenblick durchblicken lassen, wie es auf dem Grund seiner Seele wirklich aussieht: Wenn er ein Liebender ist, dürfte es ihm schwer fallen, sich den Abschied von Iphigenie nicht anmerken zu lassen. Da trifft es sich gut, dass neuzeitliche Thoasse gerne rauchen. Thoas hat also etwas in der Hand und darf bedeutungsvoll Rauch aufgehen lassen. Man sieht dann seine Rührung nicht. Er kann die Zigarette aber auch wegwerfen, wenn ein Hauch von Dandy in ihm steckt. Danach muss er noch überlegen, ob er Iphigenie, die sein Leben gewesen wäre, die Hand reicht. Kurzum: Es gäbe viel zu tun.

In den Münchner Kammerspielen erspart sich der Regisseur Laurent Chétouane solcherlei Überlegungen, weil er Thoas und Iphigenie nur dastehen lässt, wie sie hier schon geschlagene drei Stunden dastehen: Iphigenie (ein Mann: Fabian Hinrichs) rückt sich noch einmal ihr Kleinmädchenkleid zurecht, das nie und nimmer passen will, und Thoas (Wolfgang Pregler) hat die Arme über dem Wickelrock verschränkt. Anschließend gehen sie, der eine da-, die andere dorthin, aber dann kommt Iphigenie doch noch einmal zurück, und als ob es noch nicht genug gewesen wäre an diesem ziemlich überflüssigen Theaterabend, fängt sie allen Ernstes noch einmal an, den Anfangsmonolog zu sprechen. Schauriger noch: Sie singt ihn sogar zeilenweise.

Das von Komplimenten an die Münchner Kammerspiele unter Frank Baumbauer nicht gerade überquellende Besucherbuch verzeichnet nach der Premiere drei ziemlich gleich lautende Einträge, deren Verfasser sich alle fragen, was jetzt schon wieder los sei an ihrer Lieblingsbühne, die im letzen Jahr mit ein paar sehr guten Produktionen endlich in der Stadt angekommen zu sein schien, neuerlich aber wieder schwächelt. Die Großproduktionen dieser Saison waren „Lulu live“, ein Bühnenhörspiel im Dunkeln, mit heimlicher Lust an der Reproduktion von Chat-Room-Sexgesprächen, eingerichtet von Luk Perceval, und „Die Bakchen“, von Jossi Wieler, wo Euripides’ Vorlage als Callgirl-Krimi erzählt wurde.

Nun hat Laurent Chétouane auf der Bühne der Kammerspiele zehn riesige Rotorblätter angeworfen, schließlich opfert Agamemnon Iphigenie ja für günstigen Fahrtwind. Heraus kommt aber allenfalls: heiße Luft. Übereinstimmend haben die drei erwähnten Besucher die Vorstellung übrigens nach 35 Minuten verlassen. Wer aber länger bleibt, wird auch nicht klüger. Chétouane führt zwar ganz zu Anfang einen Schauspieler vor, der zu Glucks Bühnenmusik ganz außer sich gerät, sich entkleidet und in Iphigeniens Priesterinnengewand stürzt, bleibt hernach aber den Beweis schuldig, warum es die anfängliche Aufregung gebraucht hat: Weil der Text so hohl ist, wie er hier andauernd (und falsch betont) gesprochen wird? Weil die Geschichte so doof wäre, wie sie gemacht wird? Weil gezeigt werden soll, wie wenig dieses bekanntermaßen verteufelt humane Stück heute etwas taugt? Chétouane mag eine These haben, dass nämlich hier nicht einmal mehr das Rollenspiel funktioniert, oder dass Goethe einfach gaga war, auf der Bühne zu sehen ist nur: Gegähne. Schließlich singt Michael Pitts „Death to Birth“, bevor es in die Pause geht, das ist aus „Last Days“, einem Film von Gus van Sant. Nach der Pause zerstückelt Iphigenie das Parzenlied und klammert sich an die Schutzgitter der Windmaschinen. Das ist aus „Metropolis“. Wirklich aus der „Iphigenie“ ist eigentlich nur eine Zuspielung aus dem Off, als Ende des dritten Aktes Iphigenie, Orest und Pylades auf die Flucht zu sprechen kommen. Chétouane leiht sich ein paar unsterbliche Worte. Der Rest ist Pantomime. Zu hören sind Maria Wimmer, Rolf Henninger und Hannes Riesenberger, wortstark und jambenfein. Fünfzig Jahre ist das her, und man muss kein Nostalgiker sein, um zu fühlen: Es ist ein hoher Ton, aber es ist ein Ton, und er kann sich legitimieren: Er ist mit Verstand eingesetzt – und also Kunst. Zwei Minuten dauert das Vergnügen. Dann wieder Dumpfheit und Kunstgewerbe.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false