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Mari Kalabegshvili fotografierte für „If You Catch My Drift“  die Szene illegaler Autorennen in Tiflis.

© Mari Kalabegshvili

Forecast-Festival im Radialsystem: Stadt als radikaler Spielplatz

Bei Forecast treffen Künstler, Tänzer und Schriftstellerinnen auf erfahrene Mentoren, um an Projekten zu arbeiten. In einem zweitägigen Programm werden die Ergebnisse präsentiert.

Das Forecast-Festival bietet Künstlern aus der ganzen Welt die Gelegenheit, mit erfahrenen Mentoren zusammenzuarbeiten. Das Ziel: künstlerische Projekte zu verwirklichen, die Konventionen sprengen. Am Freitag und Samstag werden die entstandenen Werke im Radialsystem vorgestellt. Es geht in der achten Ausgabe um nachhaltige Mode, eine Post-Punk-Performance, um Musik, Fotografie und Film.

Eine der teilnehmenden Künstlerinnen ist Mari Kalabegashvili aus Georgien. Sie beschäftigt sich mit der Subkultur passionierter Autoliebhaber, die sich in Tiflis fast jedes Wochenende, organsiert über Social Media, an bestimmten Orten außerhalb des Zentrums treffen und nächtliche Autorennen veranstalten.

Als Kalabegashvili die Idee zu ihrem Fotoprojekt „If You Catch My Drift“ vor zehn Monaten erstmals in Berlin vorstellte, hatte sie bereits einige Fotografien im Gepäck, die sie klassisch an der Wand präsentierte: aufgemotzte BMWs, die sich in Staubwolken drehen, junge Männer, deren Gesichter sich in Heckscheiben spiegeln. Im Rahmen von Forecast hat sich das Projekt zu einer Fotoinstallation auf zwei raumfüllenden Screens entwickelt, es wuchs zu einer Narration, die von abstrakten, irrlichternden Stadtlandschaften zu konkreten Szenen führt, vom Schwarz nächtlicher Rennen ins Helle des Tages.

Zwischen der ersten Skizze und dem fertigen Werk lag ein Arbeitsaufenthalt in Beirut, einer Stadt, geprägt von Kriegen, Inflation und Katastrophen, die ähnliche komplexe Strukturen aufweist wie Tiflis. Weitere Aufnahmen wurden in Albanien, Kroatien und Ägypten gemacht.

Eskapismus als Überlebensstrategie

Kalabegashvili interessierte sie sich für die widersprüchlichen Schichten einer Stadt, sie sucht nach Strategien der Selbstermächtigung, nach Momenten, in denen öffentlicher Raum zu privatem Raum umfunktioniert und die Stadt zum „extremen Spielplatz“ wird, meist in sozialen und politischen Kontexten, in denen wenig reguliert und die Gegenwart ebenso unsicher ist, wie die Zukunft.

In Georgien, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in eine tiefe wirtschaftliche Krise fiel, sich in Bürgerkrieg und Auseinandersetzungen mit Russland zerrieb, auf Aufschwung und Revolution hoffte, entwickelte sich eine Stadtlandschaft, die Kalabegashvili „Collage“ nennt. Wohnblöcke aus Sowjetzeiten mischen sich mit mehr oder weniger intakten Altbauten, mit brutalistischen Architekturen und bizarren, teils nie fertig gebauten Neubauprojekten, initiiert von Premierministern, die als Bauherren fungieren. Die sich rasant verändernde Stadt eignen sich die Autoliebhaber in ihren Nischen und Rändern an, machen sie zum Schauplatz für eine private Leidenschaft, bei der sie die Regeln bestimmen.

Öffentliche Orte und private Räume

Von der Polizei dürfen sie sich mit ihren getunten Autos nicht erwischen lassen. Den Zugang zu dieser abgeschotteten Szene eröffnete der Künstlerin vor allem ihre Kamera. Die Kamera schafft Verbindung. Denn Bilder ihrer Abenteuer wollen sie alle haben und sind dafür auch bereit, sich betrachten zu lassen.

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Der israelisch-amerikanische Filmemacher und Schriftsteller Roee Rosen, der in seiner eigenen Arbeit Figuren aus Literaturklassikern und Geschichte humorvoll und subversiv aufmischt, interessiert an Kalabegashvilis Projekt die feministische Seite, der „female gaze- im Gegensatz zum „male gaze“, den Laura Mulvey in ihrem 1975 veröffentlichten Aufsatz „Visuelle Lust und narratives Kino“ beschrieb.

Statt alles durch die Brille der männlichen Helden zu sehen, richtet in Kalabegashvilis Arbeit eine Frau den Blick auf eine von Männern dominierte Freizeitwelt, in der Fahrerinnen nur als sehr seltene Ausnahme auftauchen. Das Objekt der Begierde ist hier das Auto. Wobei in den subjektiven Aufnahmen der Künstlerin auch diese Zuordnung verschwimmt, wenn das Auto zum Helden und der Mann nur betrachtet wird.

Sexuelle Gewalt gegen Männer

Mit einem großen Tabu beschäftigte sich der brasilianische Choreograf Gustavo Gomes, der ebenfalls von Roee Rosen betreut worden ist. Gomes entwickelte im Rahmen des Festivals einen Film über sexuelle Gewalt zwischen Männern. In „Manhandle“ werden Erlebnisse von Gewalt und Unterdrückung in Kindheit und Jugend thematisiert, und beobachtet, wie sie im Erwachsenenalter zu Obsessionen und Abhängigkeiten, Schuld und Scham führen. Entstanden ist eine 25-minütige Dokumentation, in der Choreografie und Film miteinander verwoben werden. Gemeinsam mit seinem Mentor fand Gomes Drehorte und Protagonisten und entwickelte schließlich einen Weg, um in stilisierten, ästhetischen Bildern über dieses schwierige Thema zu berichten.

Und noch ein Beispiel: Im Projekt von Aidan Jason Peters aus Südafrika geht es um Upcycling-Mode, die aus Europa nach Afrika geschickte ausrangierte Produkte zu Haute Couture verarbeitet. Problemlösung durch Design ist Peters Ansatz. Den neuen Look kreierte er mit Unterstützung seines Mentors Irakli Rusadze bei einem Aufenthalt in Mexiko City.

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