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KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Emma Talbot

© Jens Ziehe, 2023

Folge 189 „Wochniks Wochenende“: Jedem Anfang wohnt sein alter Hut schon inne

Die Gesellschaft des nächsten großen Dings ist in der Kunstwelt eine Sache des letzten Jahrhunderts.

Eine Kolumne von Thomas Wochnik

Der Soziologe Dirk Baecker, schreibt seit einigen Jahren von der „nächsten Gesellschaft“. Seit Jahrhunderten, so Baecker, orientiert sich unsere von der Französischen Revolution und ihren Folgen revolutionierte Welt an der Vergangenheit: Wer wir sind, sind wir, weil wir kommen, woher wir kommen, sei es kultur- oder individualgeschichtlich. So war das zumindest bis vor kurzem.

Mehr und mehr gehen wir laut Baecker nun dazu über, uns stattdessen am Nächsten zu orientieren. Wir verstehen uns heute schon als die, die wir im Begriff sind (und hoffen oder planen) zu werden, eifern im körperlichen Leben den Bildern von uns selbst nach, die wir in sozialen Medien von uns erschaffen. Altes Wissen erscheint uns veraltet, wenn es nicht zur sicheren Prognose des Nächsten dient: Der aus der Wirtschaft kommende Drang, den nächsten Hype vorherzusehen, ob an der Börse oder auf dem Verbrauchermarkt, ist längst nicht nur selbst ein teuer verkäufliches Produkt, sondern führt auch zu kulturpsychologischen Verschiebungen.

Daran musste ich beim Besuch des Kindl Kulturzentrums denken, wo schon die noch laufende Ausstellung der Britin Emma Talbot, vermutlich unabsichtlich, im Titel auf die nächste verweist: „In the End, the Beginning“ (Foto oben). Aber nicht das Nächste an sich ist Thema ihrer ortsspezifischen Installation, sondern fast vergessene Stimmen aus ferner Vergangenheit. Noch bis 26.5. zu sehen.

Als Nächste kamen am 24.3. vier Ausstellungen im Kindl dazu: Franz Wanner befasst sich mit gegenwärtigen Auswirkungen der im Nationalsozialismus massenhaft praktizierten Zwangsarbeit, Kerstin Honeit mit heutiger sozialer Ungleichheit. Eine aus Dakar nach Berlin gekommene Gruppenschau schließlich will die Vergangenheit bei „Ré-imaginer le passé“ neu denken, um so, und nur so, mögliche Zukünfte herzuleiten. Ist all diese Kunst nun rückwärtsgewandt? Wohl kaum. Der große Hype um das Neue in der Kunst (etwa Mitte des letzten Jahrhunderts) ist vielleicht einfach selbst ein alter Hut.

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