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Isabel Katjavivis Installation "They tried to bury us" wurde beim "Burden of Memory"-Projekt gezeigt

© Yvon Yamasi/Goethe-Institut

Debattenbeitrag von Carola Lentz: Eine Frage vieler Perspektiven

Wer soll, wer darf an was erinnern und wie? Die neue Präsidentin des Goethe-Instituts plädiert für einen beweglichen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit.

Carola Lentz ist Ethnologin und Präsidentin des Goethe-Instituts. Ihr Text basiert auf einem längeren Beitrag für den Sammelband „Koloniale Vergangenheit – Postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken“, herausgegeben von Henning Melber und Kirstin Platt, der im März 2022 bei Brandes & Apsel (Frankfurt/Main) erscheinen wird.

Ein Jahrhundert nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft führte 2018 erstmals ein Koalitionsvertrag die „Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte“ als Teil des demokratischen Grundkonsenses der Bundesrepublik Deutschland an. Auch der neue Koalitionsvertrag fordert, die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe voranzutreiben. Im „Dialog mit den Herkunftsgesellschaften“, so heißt es, sollen „kolonial belastetes Sammlungsgut“ zurückgegeben, ein Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus entwickelt und „koloniale Kontinuitäten“ überwunden werden.

Doch wie lässt sich das praktisch umsetzen? Die erbitterten Debatten über die Erinnerung an den Holocaust und an Kolonialverbrechen zeigen: Hier herrscht noch wenig Konsens. Wer soll, wer darf an was erinnern und wie? Welche Gräben zwischen verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften müssen wir ertragen, welche Brücken können wir bauen? Und wer gehört überhaupt zum erinnernden Wir?

Die verschiedenen Betrachtungsweisen sind disparat

Unter dem Titel „Colonialism as shared history“ richtete das Auswärtige Amt im Oktober 2020 eine Tagung zum Umgang mit der kolonialen Vergangenheit aus. In ihrer Eröffnungsrede skizzierte die kenianische Autorin Yvonne Adhiambo Owuor ein düsteres Bild des kolonialen Horrors, von der Ausraubung Afrikas bis hin zum Genozid.

Vor allem aber attackierte sie das Leitmotiv der Konferenz. Erfahrungen und Perspektiven der Kolonisierer und Kolonisierten seien zu disparat, um von einer „geteilten Geschichte“ (shared history) sprechen zu können. Auch andere Konferenzteilnehmer kritisierten, das Konzept suggeriere vorschnell Versöhnung, wo die historische Verantwortung noch nicht anerkannt, Reparation und Restitution noch nicht geleistet seien.

Viele Diskussionsbeiträge auf dieser Tagung zeichneten ein vereinfachendes Bild des Kolonialismus, mit europäischen Tätern auf der einen und afrikanischen Opfern auf der anderen Seite. Dieses Bild haben europäische und afrikanische Historiker und Ethnologinnen in den letzten zwei, drei Jahrzehnten durch nuancenreiche Forschungen zur Kolonialgeschichte revidiert.

Doch die öffentliche Diskussion zum kolonialen Erbe zeigt: Wissenschaftliche und politisch-aktivistische Perspektiven auf das Thema differieren. In der Erinnerungspolitik geht es nicht um die Aneignung von Forschungsergebnissen, sondern vor allem um Selbstvergewisserung und Gemeinschaftsbildung.

Die Erinnerungsgemeinschaften existieren nebeneinander

Wie sich Menschen an die Vergangenheit erinnern, ist durch die Herausforderungen der Gegenwart und die Vorstellungen einer wünschenswerten Zukunft geprägt. Die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen strukturiert die individuelle Erinnerung, wie schon Maurice Halbwachs gezeigt hat. Und mit neuen Herausforderungen oder neuen Gruppenkonstellationen verändern sich auch die Erinnerungen.

Außerdem existieren in modernen Gesellschaften verschiedene Erinnerungsgemeinschaften nebeneinander. Sie können sich wechselseitig ignorieren oder um Aufmerksamkeit konkurrieren, sich bekämpfen oder miteinander verbünden. Staatliche Instanzen wollen mit Erinnerungspolitik nationale Zugehörigkeit stärken oder die Regierung legitimieren. Regimekritiker oder um Anerkennung ringende Minderheiten mobilisieren ihrerseits alternative Erinnerungen.

Vor diesem Hintergrund werden die Herausforderungen einer Aufarbeitung des Kolonialismus erkennbar. Schon die Frage, wie die einst kolonisierten, nun unabhängigen Staaten kollektive Erinnerungen mobilisieren können, die ihre jungen Nationen vereinen, war und ist heikel. Denn verschiedene Bevölkerungsgruppen machten durchaus diverse Erfahrungen mit den Kolonialregimen – von Widerstand über Ausweichen bis hin zu Kollaboration – und hegen eigene Erinnerungen.

Noch größer sind die Herausforderungen, sobald es um eine die ehemaligen Kolonialmächte und Kolonien verbindende Erinnerungsarbeit geht. Wer erinnert was, in wessen Namen, über wen, und wer spricht zu wem? Dazu kommt, dass es für die frühen, besonders gewaltvollen Phasen des europäischen Kolonialregimes in Afrika keine Zeitzeugen mehr gibt.

Erhellend: das Projekt "Burden of Memory"

Und wie Jan und Aleida Assmann gezeigt haben: Mit zunehmendem zeitlichen Abstand wird das vielstimmige kommunikative Gedächtnis durch ein stärker vereinheitlichendes kulturelles Gedächtnis überformt. Narrative in Romanen und Schulbüchern, Filmen, Museen oder Denkmälern strukturieren die kollektive Erinnerung.

Die verschiedenen Gemeinschaften miteinander ins Gespräch zu bringen, darum sollte es bei einer zukunftsweisenden Aufarbeitung des Kolonialismus gehen. Die folgenden Beispiele zeigen die Herausforderungen, aber auch Chancen eines solchen Ansatzes. Es gab das „Burden of Memory“-Projekt. Der Titel verdankt sich einer Sammlung von Essays von Wole Soyinka. Es begann 2018 mit einer Bestandsaufnahme der kulturellen Produktionen zu den Spuren der deutschen Kolonialherrschaft in sechs afrikanischen Ländern – Namibia, Burundi, Ruanda, Tansania, Kamerun und Togo.

Schon dieser Survey, von lokalen Kulturschaffenden erarbeitet, zeigte, wie unterschiedlich die Perspektiven auf die deutsche Kolonialzeit von Land zu Land waren. Bei einer Kulturwoche im November 2019 im kamerunischen Yaoundé tauschten sich dann über einhundert Künstlerinnen und Intellektuelle aus den sechs beteiligten Ländern intensiv über ihren Blick auf das koloniale Erbe aus.

Kuratiert wurde das Programm von drei Afrikanerinnen, darunter Princess Marilyn Douala Manga Bell aus Kamerun. Ganz bewusst baten die Kuratorinnen keine deutschen oder anderen europäischen Sprecher auf die Bühne. Die afrikanischen Erinnerungen und künstlerischen Positionen sollten im Mittelpunkt der Veranstaltung stehen, während die deutschen Teilnehmer vor allem zuhörten.

Zuhören, sich austauschen, voneinander lernen

Dieser Ansatz ermöglichte für alle Beteiligten fruchtbare und teilweise überraschende Erkenntnisse – etwa wie unterschiedlich des Genozids in Namibia und des Maji-Maji-Kriegs in Tansania gedacht wird. Oder wie verschieden das deutsche Kolonialregime in Togo und in Kamerun erinnert wird. Solche Gespräche über unterschiedliche afrikanische Perspektiven auf die koloniale Vergangenheit können die künftige Erinnerungspolitik in Afrika verändern, aber auch den Austausch mit den europäischen Erinnerungsakteuren bereichern.

Unter dem Titel „Alles vergeht, außer der Vergangenheit“ brachte eine vom Goethe-Institut Brüssel organisierte Serie von Workshops Erinnerungsexpertinnen aus Europa zusammen, aus Belgien, Spanien, Frankreich, Portugal, Italien und Deutschland. Dabei ging es um die Spuren der kolonialen Vergangenheit in Museen, Bildarchiven und Monumenten im öffentlichen Raum.

Die von Land zu Land unterschiedlichen Herausforderungen im Umgang mit dem kolonialen Erbe kennenzulernen, habe den Blick für neue Möglichkeiten der Erinnerungsarbeit geöffnet, so das Fazit der digitalen Abschlusskonferenz im Oktober 2020. Dort berichteten etwa junge italienische Kuratorinnen von ihrer schwierigen Auseinandersetzung mit der nostalgischen Verklärung der kolonialen Vergangenheit seitens vieler Politiker und älterer Museumsakteure.

Ein Mitglied von „Berlin Postkolonial“ und eine in Spanien arbeitende peruanische Künstlerin diskutierten über den Sturz kolonialer Monumente und fragten, welche anderen, auf Befreiung zielenden Formen der Erinnerung im öffentlichen Raum möglich wären. Dieser europäische Austausch wird jetzt unter anderem im Projekt „ReMapping Memories“ weitergeführt, das Kolonialismus und antikolonialen Widerstand in Hamburg und Lissabon erforschen will.

Carola Lentz ist seit November 2020 Präsidentin des Goethe-Instituts.

© Goethe-Institut/Loredana La Rocca

Ein anderes Beispiel: Das Theaterstück „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten – eine Erwiderung“, im März 2021 als Video-Stream an den Münchener Kammerspielen uraufgeführt, ist eine burlesk-bitterböse Erwiderung auf einen fraternisierenden Kalauer von Franz-Josef Strauß. Strauß hatte bei einem Besuch beim togoischen Diktator Gnassingbé Eyadema die enge Freundschaft zwischen den Deutschen und speziell der CSU („Wir Schwarzen“) mit den Togoern beschworen.

Das Stück ist Ergebnis einer togoisch- deutschen Koproduktion, unter Leitung von Regisseur Jan-Christoph Gockel und dem Autor Elemawusi Agbédjidji. Das Publikum folgt einer togoischen Kosmonautin und Geister-Jägerin – die ein afrikanischer Funker namens Siegfried Gaba Bismarck herbeiruft – auf einer Zeitreise durch den Beginn der deutschen Kolonialherrschaft in Togo über den ersten Weltkrieg bis hin zur Hundertjahrfeier der „deutsch-togoischen Freundschaft“ im Jahr 1984.

Bei der Erarbeitung des Stücks lernten die deutschen Künstler Neues über die Aktualität der kolonialen Vergangenheit, und auch der Autor betonte, dass ihm die gemeinsame Recherchereise und überhaupt die künstlerische Zusammenarbeit neue Einsichten in die eigene und die deutsche Geschichte vermittelt hätten.

Es gilt, einfache Opfer-Täter-Dichotomien zu verlassen

Mit Blick auf die Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Erinnerung forderte Aleida Assmann kürzlich den „Umbau von monologischen in dialogische Gedächtniskonstruktionen“. Auch die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe Europas muss meines Erachtens Austausch ermöglichen und Erinnerungsgemeinschaften vernetzen, ohne gleich Gemeinsamkeit zu unterstellen.

In diesen Prozess sollten auch wissenschaftliche Erkenntnisse Eingang finden. Es gilt, einfache Opfer-Täter-Dichotomien zu verlassen, ohne Kolonialverbrechen und durch den Kolonialismus verursachtes Leid zu relativieren. Die kolonialen Gesellschaften waren in sich heterogen; ihre Mitglieder hatten unterschiedliche Interessen sowie Chancen und machten verschiedene Leidenserfahrungen.

In kleinen Schritten zur "geteilten Erinnerung"

Dazu kommen regionale Unterschiede, Verschiedenheiten der europäischen Herrschaftsstrategien und der Faktor Zeit. Koloniale Praxis nach dem Zweiten Weltkrieg unterschied sich deutlich von jener Ende des 19. Jahrhunderts. Eine „reflexive Erinnerungskultur“, wie Dana Giesecke und Harald Welzer sie in Bezug auf den Holocaust propagiert haben, ist auch für einen in die Zukunft weisenden Umgang mit der kolonialen Vergangenheit notwendig. Es gelte, den „Möglichkeitssinn“ zu entwickeln, dass Geschichte auch anders hätte gestaltet werden können. Dann würde greifbar, dass die Zukunft vom eigenen verantwortlichen Handeln abhängt.

Ebenso wichtig wie ein reflexiv-intellektueller scheint mir aber auch ein emotionaler Zugang zum kolonialen Erbe, wie ihn künstlerische Formen bieten können, von Performances ritueller Heilung bis hin zu satirisch-komödiantischen Theaterstücken. Wenn Akteure aus unterschiedlichen Erinnerungsgemeinschaften einander wahrnehmen und sich austauschen und vielleicht auch miteinander weinen und lachen können, dann könnte in kleinen Schritten eine „geteilte“ Erinnerung entstehe, eine Erinnerung, die die konfliktreichen Unterschiede nicht negiert, aber doch Wege zur Versöhnung und künftigen Zusammenarbeit aufzeigt.

Carola Lentz

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