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Kultur: Die Reise nach Alaska

Unter Gespenstern und Geistesgrößen: Wie ich meine serbische Heimat wiederfand / Von Bora Cosic

Im Sommer 2005 brach der serbische Schriftsteller Bora Cosic, geboren 1932, zu einer Reise durch das frühere Jugoslawien auf. Anfang der neunziger Jahre hatte er das Land aus Protest gegen die nationalistische Kriegspolitik der Machthaber verlassen. In Kroatien türmt sich noch der Müll, die Dörfer sind vom Krieg gezeichnet, und in der gespenstischen Republika Srpska finden sich die Villen der Neureichen. Als Oase erscheint ihm nur die Halbinsel Istrien. In Sarajevo, zwischen Ruinen und Skeletten, verschwimmen Gegenwart und das Wissen um die Jahre der Belagerung. Aus den Passagen über Belgrad, die serbische Hauptstadt, wo er den größten Teil seines Lebens verbrachte und die das Herzstück seines dieser Tage bei Suhrkamp erscheinenden Berichts „Die Reise nach Alaska“ (Übersetzung: Katharina Wolf-Grießhaber) ausmachen, dokumentieren wir einige Passagen. – Bora Cosic lebt in Berlin.

Ob der Mensch hier oder dort geboren wird, ist eine Sache des Zufalls. Damit verliert der Begriff „Heimat“ oder „Vaterland“ seinen besonderen Stellenwert: alles lässt sich auf geographische Koordinaten zurückführen – profane Punkte auf der Landkarte unseres Schicksals. Und wenn ich mich heute, nach vielen Jahren, auf den Weg in mein Geburtsland mache, fühle ich mich, als wäre ich nach Afrika oder nach Alaska aufgebrochen. So gehe ich in die unbekannte Gegend meiner Vergangenheit, ohne eigentlich zu wissen, warum. Mit völlig neutralen Emotionen: ich habe nicht die Absicht zu beweisen, dass dies eine außerordentliche oder eine völlig missratene Gegend sei. Ich bin mit keinerlei Mission, weder einer politischen noch einer ideologischen, betraut. Ich gehe vielleicht nur hin, um meiner Frau das Haus zu zeigen, in dem ich zur Welt gekommen bin, und damit sie mich vor ihr Geburtshaus führt. So brechen wir in das Alaska unseres früheren Lebens auf, von allem befreit, reine Touristen auf dem Weg unseres Seins, Pilger in das Land dessen, was vor langer Zeit unser Leben ausgemacht hat.

Am Hang unterhalb des Theaters und des Studentenparks, liegt in der schattigen Francuska-Straße das Haus der serbischen Schriftsteller und hinter dem Gebäude der Garten, in dem ich jahrzehntelang mit meinesgleichen gesessen habe, ohne daran zu denken, dass auch zwischen uns die Bombe der Uneinigkeit und Zwietracht fallen würde. Einige von ihnen, eigentlich die Mehrheit meiner dortigen Kollegen, sind tief in die malignen Ereignisse des vergangenen Jahrzehnts verwickelt, ich vermute, einige sitzen auch weiterhin in dem Garten unserer literarischen Jugend, als wäre nichts geschehen.

Als meine Frau, neugierig auf jeden Fußbreit dieser Stadt und auf jeden, der meine Spur war, möchte, dass ich einmal am Abend mit ihr dort hingehe, sage ich ihr, dass ich nicht mehr hingehen mag. Nicht nur, weil ich viele dieser Personen nicht mehr sehen kann, sondern auch, weil der Garten unserer Vergangenheit von einer besonderen Art Unkraut überwachsen sein muss, überwuchert von einer speziellen Form der Mandragora, der Pflanze des Hasses und des Streits.

So spähen wir am Tag in diesen Raum, wenn dort nichts passiert, und da ich feststelle, dass sich scheinbar nichts verändert hat, bestätigt sich lediglich meine Meinung: obwohl alles gleich ist, ist nichts mehr wie früher. Nur höre ich auf jenem Kies, zwischen den leeren Tischen und Stühlen einige Augenblicke lang noch das Echo unserer Gespräche, vor allem der verstorbenen und in der Zwischenzeit verschwundenen Menschen. Eine Brüderlichkeit ist zerbrochen, geblieben sind nur die Brandstifter unserer Gemeinschaft, stolze Poeten, verwandelt in Verführer zum Bösen, in Promoter des Verbrechens. So stehen wir noch einige Augenblicke an jenem Tor, zwischen den Pfosten, durch die ich in die Literatur eingeführt wurde, in den Kreis der heute toten Dichter Dušan Matik und Vasko Popa, auf der Schwelle, wo mir Andrik einmal die Hand gab, wo mich Vumo in der Literatur voranbrachte, wo sich Oskar Davimo beeilte, mich mit dem Mailänder Kritiker Vigorelli bekanntzumachen.

All das sind heute nur Gespenster eines Seins, eines für immer begrabenen, und dass ich aufs Neue dort bin, das ist nur, als ob man sich mitten auf die Bühne stellt, während kein Theater stattfindet. Denn am Abend wird sich diese traurige Gruppe von verstrickten Kriegstreibern, mit denen ich keinen Rotwein trinken möchte, hierher schleppen. Kann ein Restaurantgarten in seinem leeren Zustand, also wenn überhaupt keine Gäste da sind, kann dieser begrenzte Raum mehrere Jahrzehnte eines Lebens mit Büchern, mit Ideen fassen, mit Versuchen, all das zu begreifen, was außerhalb des Gartens liegt, was zu keinem Zweig der Schriftstellerei gehört, sondern zur nackten Existenz, zu den Leuten, die ich in dieser Existenz getroffen habe, mit denen ich Umgang gepflegt habe und von denen ich mich später, oft in Krämpfen, in Konvulsionen, für immer getrennt habe?

Hinter dieser hohen Hecke, die die Gewöhnlichkeit der Straße von diesem Winkel des literarischen Lebens trennte, ganz in der Nähe, auf der anderen Seite des Trottoirs, wohnte, als ich fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, die Familie meines Großvaters und meiner Großmutter, im Krieg aus dem unabhängigen Staat von Pavelik vertriebene Personen, es war im Sommer 1947 oder 1948, und ich betrachtete, wenn ich auf dem Schulweg bei meinen Großeltern vorbeiging, um dort eine Kleinigkeit zu essen, voller Neid die hohe Buchsbaumhecke, hinter der die Literatur residierte.

Schon ein paar Jahre später übersprang ich die Barriere aus dunklem Grün, und heute, wieder an derselben Stelle, denke ich, wie viel Glück ich hatte, dass es mir gelang, diesen Garten der dichterischen Wonnen zu verlassen, wenn auch auf dem Floß der Medusa. Weil es sich gezeigt hat, dass der heiß ersehnte Garten des literarischen Seins auch ein verrottetes Schiff ist, das in einem fort sinkt, aber seine Passagiere noch immer nichts davon merken. Denn auf dieser Titanic unseres Schreibens ist alles wie auf jener im Jahr 1911, in den Salons der serbischen Literatur wird Bridge gespielt, es dreht sich der Wahnsinnswalzer eines besonderen Stils, es wird bis zum Umfallen getrunken, aber der Bug ist längst schon in den Eisberg der Wirklichkeit hineingestoßen, wie das Boot der Liebe in Majakovskijs Gedicht am Alltagsleben zerschellt ist.

Sie sehen es nicht, meine alten und jungen Kollegen aus dem Skribentenkolleg jener Stadt, dass ihre Dithyramben zu Ehren der Verbrecher, solange sie sie als Helden ansehen, zu nichts führen, nur dass sie außerhalb aller moralischen Normen stehen, nur dass sie gegen jeden menschlichen Geschmack verstoßen, nur dass sie unsagbar schändlich sind. Der Mensch kann sich schamlos und gegen jedwede menschliche Hausordnung benehmen, nicht nur, wenn er mit den Fingern isst, wenn er seine Zähne nicht putzt und Darmwinde entweichen lässt, wie es ihm gefällt, sondern wenn er bereit ist, seinem Nachbarn den Hals umzudrehen, nur um an seinen Fernseher oder Kühlschrank heranzukommen.

Ein solches Geschöpf ist imstande, alles aus dem Haus des Nachbarn aufzuladen und diese ganze Ware auf dem nächsten Markt zu verkaufen, ohne bei dieser Tat die geringste Scham, auch nur einen Hauch von Nervosität zu empfinden. Ein alter Freund, der zufällig in ein serbisches Städtchen geraten war, erzählte mir die folgende Szene: Auf dem dortigen Platz traf ein Laster mit in Bosnien gestohlenen Sachen ein, sogleich begann der Verkauf. Weder fragte sich irgendwer, wessen Sachen das waren, noch, woher sie kamen, obwohl das jeder sehr gut wusste. Mein lieber Freund empfand Scham, weil er diese Szene beobachtete, die Käufer und Verkäufer hatten diese Scham nicht. Aber schamlos waren auch unsere stolzen Schriftsteller, die Bewohner des Belgrader literarischen Gartens, weil sie in ihren Texten eine Politik rühmten, die unter anderem räuberisch war. Es handelte sich nicht mehr um die erhabenen Interessen der Nation, um die Ehre und den Ruhm der serbischen Waffen und wer weiß was noch alles, es ging um gewöhnlichen Diebstahl, Räuberei, Wegelagerei. Das berücksichtigt Herr Handke auf seiner Reise durch ebendieses Land keineswegs, er trinkt sauren Wein mit den Schriftstellerkollegen, den Adoranten dieser Räuberei, des Diebstahls fremden Eigentums auf der Straße und anderswo.

Schon vor drei Jahrhunderten warnte, wie bereits erwähnt, ein westlicher Reiseschriftsteller diejenigen, die nach ihm kämen, vor dem Stand der Dinge in Serbien: Übernachtet, sagte er, nicht ohne Not unter den Serben, kehrt ihnen nicht den Rücken zu, das ist sehr gefährlich. Dies kam mir, als ich es las, wie die übertriebene und missmutige Beobachtung eines feinen Herrn vor.

Aber was ist zu den gegenwärtigen Räubern zu sagen, zu dem glühenden Serbenvolk mit kroatischen und bosnischen Kühlschränken auf dem Rücken, die jener Mann im Kopaonikgebirge erblickte und sich seiner Herkunft schämte, wie auch ich mich ihrer deshalb heute schäme. Nimmt jener transrationale Dichter aus Österreich, Sachwalter der aggressiven serbischen Politik, auch die Verantwortung für etwas von den Praktiken und Absichten dieser serbischen Räuber auf sich?

Ich bin ohne alle Vorurteile in mein Land gekommen, einzig mit dem Wunsch festzustellen, was gewesen ist und wie es gewesen ist, aber das, was ich dort angetroffen habe, ist nur ungeheures Elend und Grauen, das sich die Menschen selbst zugefügt haben. Wen kann ich hier vertreten, wen in Schutz nehmen? Jeder von uns, aus der serbischen Nation, muss doch die Last des aus einem Haus in Zvornik oder Kilipi geraubten Hausrats auf seinem Rücken spüren. Es gibt niemanden, der das nicht spüren müsste, und sei er auch ein europäischer Literat, der Herrn Handke durch die Morava-Klöster führt.

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