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Eine Seite aus Katia Fouquets Beitrag „Der Radierer“.

© avant-verlag

Deutsch-polnisches Comic-Projekt „Living Archive“ : Das geheime Leben der Väter und Großväter

Die Anthologie „Gerne würdest du allen so viel sagen“ zeichnet die Traumata des 20. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart nach. Sie gehört zum Besten, was der dokumentarische Comic zu bieten hat.

Sie lernte ihren Großvater als in sich gekehrten Künstler kennen, der in seiner Familie und darüber hinaus verehrt wird. Er war von fünf Jahren russischer Kriegsgefangenschaft geprägt und wurde in den 1980er Jahren als Meister der Radierung geschätzt. Dass der schweigsame Hermann Clemens auch noch eine ganz andere Seite hatte, über die in der Familie nie gesprochen wurde, entdeckte die Berliner Zeichnerin und Autorin Katia Fouquet erst Jahrzehnte nach seinem Tod.

Ein lange in der Familie kaum erwähnter Aspekt seiner Biografie und eine Internetrecherche waren für die 1975 geborene Fouquet der Ausgangspunkt einer Recherche, die Erschütterndes zutage fördert. Hermann Clemens war vor seiner Zeit als Kriegsgefangener Richter und zuletzt in der nationalsozialistischen Militärgerichtsbarkeit eingesetzt. Je mehr die Enkelin über ihren Opa erfährt, desto mehr wird das in der Familie gepflegte Opfer-Narrativ durch eine Täter-Biografie ersetzt.

16 gezeichnete Recherecheprojekte

Von diesem Erkenntnisprozess erzählt die Zeichnerin in der knapp 20-seitigen Comic-Kurzgeschichte „Der Radierer“, die zu den herausragenden Beiträgen des Sammelbandes „Gerne würdest du allen so viel sagen – Unterbrochene Gespräche des 20. Jahrhunderts“ zählt. 16 Zeichnerinnen und Zeichner haben dafür die Geschichte ihrer Familien oder die von historischen Persönlichkeiten erforscht und ihre Funde zu Bilderzählungen verarbeitet, die zum Besten gehören, was das Genre des dokumentarischen Comics derzeit zu bieten hat.

Eine Seite aus Katia Fouquets Beitrag „Der Radierer“.
Eine Seite aus Katia Fouquets Beitrag „Der Radierer“.

© avant-verlag

Entstanden sind diese Arbeiten im Rahmen des 2020 gestarteten Projekts „Living Archive“ des Polecki-Instituts, einer polnischen Forschungseinrichtung mit Niederlassung in Berlin. Ihr Ziel ist die Aufarbeitung der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in Zusammenarbeit mit deutschen und internationalen Archiven. Inhaltlich betreut wurde das Projekt unter anderem vom Berliner Comiczeichner und Dozenten Kai Pfeiffer und der polnischen Schriftstellerin Monika Powalisz.

Verdrängte Erinnerungen

Fouquets Geschichte zeigt beispielhaft, worin die Stärke der Kunstform Comic liegt, wenn es um die Darstellung verschütteter oder verdrängter Erinnerungen geht. In „Der Radierer“ fügt sie zwei unterschiedliche Narrative zusammen und findet für jedes eine eigene Bildsprache. Ihre fragilen Buntstiftzeichnungen erzählen in semirealistischem Stil von ihren eigenen Erinnerungen an den Großvater und von dessen Interaktion mit seiner Familie als altem Mann. Aufgrund seines Schweigens und der wenigen Informationen über seine Kriegserlebnisse bleibt sein Bild in diesen Szenen aber vage und unvollständig.

Jene Szenen hingegen, in denen die Autorin auf Grundlage umfangreicher Familien- und Archiv-Recherchen die Leerstellen in der Lebensgeschichte ihres Großvaters zu füllen versucht, sind in einem freieren Stil gehalten und verbinden surrealistische Elemente und visuelle Symbole und Metaphern mit Dokumentarischem. Nach und nach fügen sich die beiden Erzählebenen zur Biografie eines widersprüchlichen Mannes, dessen in der Familie und der Öffentlichkeit gepflegtes Bild nur einen Bruchteil der Realität abbildet.

Eine Seite aus Karochys Beitrag „Ostaschkow“.
Eine Seite aus Karochys Beitrag „Ostaschkow“.

© avant-verlag

Welche Verheerungen die Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Polen hinterlassen haben, ergründet die in Göttingen geborene und in Berlin lebende Künstlerin Karolina Chyzewska alias Karochy in ihrem Beitrag „Ostaschkow“. Sie zeichnet die Geschichte ihres Urgroßvaters nach, der als polnischer Offizier zu Beginn des Zweiten Weltkrieges von den russischen Besatzern unter unmenschlichen Bedingungen erst interniert und dann bei einem Massaker getötet wurde.

Intergenerationelle Traumata

Auch hier erweist sich die Verbindung zweier Zeichenstile – in diesem Fall semirealistische Szenen mit grafisch reduzierten, teilweise auf Symbole reduzierten Bildern – als hilfreiche Kombination, um historische Ereignisse und persönliche Erlebnisse, Belegtes und Rekonstruiertes zusammenzubringen. Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die damit verbundenen Massaker erhält die Erzählung außerdem zusätzliche Aktualität.

Eine Seite aus Bianca Schaalburgs Beitrag über die Langzeitfolgen der deutschen Besatzung Frankreichs.
Eine Seite aus Bianca Schaalburgs Beitrag über die Langzeitfolgen der deutschen Besatzung Frankreichs.

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In mehreren weiteren Beiträgen, die ebenfalls auf den Familiengeschichten der Autorinnen und Autoren basieren, werden unter anderem die intergenerationellen Folgen des deutschen Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg, das Schicksal der polnischen Juden und das Trauma der Flucht vor der Roten Armee aus ehemals deutschen Ost-Gebieten thematisiert. Der Fokus liegt dabei stets auf den individuellen, persönlichen Schicksalen, anhand derer man erfährt, welche Spuren historische Ereignisse in den Familien und bei einzelnen Menschen hinterlassen haben.

Leistungsschau der Comicszene

Alle Künstlerinnen und Künstler finden für ihre Erzählungen eine jeweils sehr eigene, fast durchgehend gelungene visuelle Form, wodurch dieser Band auch zur Leistungsschau der gegenwärtigen deutschen Comicszene wird. Viele der Beteiligten haben sich in den vergangenen Jahren bereits durch eigene längere dokumentarische oder autobiografische Graphic Novels einen Namen gemacht, darunter Bianca Schaalburg („Der Duft der Kiefern“), Hannah Brinkmann („Gegen mein Gewissen“), Julia Bernhard („Wir gut, dass wir drüber geredet haben“) und Sheree Domingo („Madame Choi und die Monster“).

Nicht alle Beiträge basieren auf persönlichen Erlebnissen oder der eigenen Familiengeschichte, manche sind auf Archivrecherchen basierende Nacherzählungen historischer Biografien oder Vorgänge. Für vorübergehende komische Erleichterung sorgen einige Beiträge, die die schweren Themen mit schwarzem Humor angehen. Dazu zählen Katharina Greves gereimte Satire auf die NS-Organisation Bund Deutscher Mädel und Thomas Gilkes „Handbuch für den angehenden Potentaten“.

Eine Seite aus Julia Bernhards Beitrag über die Folgen der Vertreibung aus Schlesien für ihren Großvater und dessen Familie.
Eine Seite aus Julia Bernhards Beitrag über die Folgen der Vertreibung aus Schlesien für ihren Großvater und dessen Familie.

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An mehreren Stellen entstehen völlig unerwartete Bezugspunkte zwischen Vergangenheit und Gegenwart, so auch in der letzten Geschichte des Bandes, die größtenteils in der Gegenwart angesiedelt ist. In „Spannende Zeiten“ erzählt die 1987 in Thüringen geborene Zeichnerin Anne Zimmermann einfühlsam davon, wie ihr Vater und andere Familienmitglieder sich ab 2020 zunehmend in Covid-Verschwörungstheorien verlieren, die Bundesrepublik auf dem Weg in eine Diktatur sehen und die Coronamasken in ihrem Wahn als „neuen Davidstern“ bezeichnen.

Monika Powalisz und Kai Pfeifer (Hrsg.): „Gerne würdest du allein so viel sagen“, avant, 320 Seiten, 28 Euro.
Monika Powalisz und Kai Pfeifer (Hrsg.): „Gerne würdest du allein so viel sagen“, avant, 320 Seiten, 28 Euro.

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Das illustriert Zimmermann neben Alltagsszenen aus ihrem Leben oder von Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen mehrfach auch mit Bildern aus einem Online-Spiel mit einem maskierten Killer. Das spielt sie mit einem Familienmitglied, während die beiden sich am Telefon über ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf die Corona-Maßnahmen unterhalten. Eine originelle visuelle Idee, um die in der Familie um sich greifende Paranoia zu veranschaulichen. Bemerkenswert ist an diesem Beitrag, mit wie viel Empathie Zimmermann das Abgleiten in Verschwörungstheorien anschaulich macht, ohne ihre Verwandten zu kompromittieren.

„Geschichte wird nicht gemacht“, schreibt Herausgeber Kai Pfeiffer im Vorwort, „sie wird geschrieben.“ Dieses Buch zeigt, wie ergiebig die Aufarbeitung der Geschichte des 20. Jahrhunderts und ihrer Folgen durch dokumentarische Comics auch mehr als 30 Jahre nach Art Spiegelmans „Maus“ und 20 Jahre nach Marjane Satrapis „Persepolis“ noch sein kann. Wenn sie in den richtigen Händen liegt.

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