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Eine Szene aus „Scheiblettenkind“.

© Suhrkamp

Autobiografischer Comic „Scheiblettenkind“: Die Schlange Selbstzweifel

Die Hamburger Comiczeichnerin Eva Müller hat mit „Scheiblettenkind“ die erste deutsche Graphic Novel über Klassismus veröffentlicht.

Von Silke Merten

Auf dem Buchmarkt hat Klassenkampf hat Konjunktur. Die Bücher der Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux sind Bestseller. Ihre soziale Herkunft zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk und damit einhergehend die Analyse, welche Folgen der gesellschaftliche Aufstieg für sie hatte: Entfremdung von der Familie, Scham, Einsamkeit.

Auch deutsche Autorinnen und Autoren wie Christian Baron, Marlen Hobrack oder Bov Bjerg haben ihre Erfahrungen als Kinder der Unterschicht in Romanen und Essays verarbeitet.

Monotone Arbeit, Geldmangel, Reihenhaussiedlungen

Und im Comic? Nichts! Erst Eva Müller legt jetzt mit „Scheiblettenkind“ (Suhrkamp, 279 S., 28 €) die erste deutsche Graphic Novel über Klassismus vor. Wie die meisten SchriftstellerInnen erzählt sie autofiktional. Ihr gezeichnetes Alter Ego wächst in einem Kohlerevier irgendwo in Westdeutschland auf. Mit schwarzer Tusche und Bleistift entfaltet Müller Bilder vom tristen Leben in der strukturschwachen Gegend. Ein Milieu zwischen monotoner Arbeit, Geldmangel und Reihenhaussiedlungen.

Ein Kind seiner Klasse: Eine Doppelseite aus „Scheiblettenkind“.

© Suhrkamp

Die Comic-Eva beneidet die Gymnasiasten und verschlingt Bücher, bleibt aber unter ihresgleichen. Schon früh im Leben sind Selbstzweifel ihr Begleiter - Eva Müller stellt sie dar als riesige Schlange, die sich in die Panels windet oder aus dem Off vernichtende Kommentare zischt.

Monotonie am Fließband

Solche Bild-Metaphern sind Eva Müllers große Stärke. Sie bringen die Misere ihres Alter Ego treffend auf den Punkt. Eindrücklich die Monotonie am Fließband, als sie nach der Schule einen Job in der Fabrik annimmt: 15 Porträts zeigen ihren Kopf in der gleichen Größe und Perspektive - nur wird der mittendrin zum Totenschädel, zerfließt, explodiert schließlich. Langeweile als Horror ohne Worte.

Nur vertraut Müller nicht den Bildern. Durch die gesamte Graphic Novel hindurch unterlegt sie die Panels mit Text - und illustriert dann, was sie mit Worten erzählt. Das ermüdet nicht nur, es wirkt wie mit dem Holzhammer erzählt: Seht her, die Gesellschaft ist ungerecht! Ich war arm dran! Diese verwöhnten Bürgerkinder!

Eine weitere Doppelseite aus „Scheiblettenkind“.

© Suhrkamp

Auch dass die Bilder durch viele senkrecht angelegte Motive statisch wirken, erschwert das Lesen. Was eine bewusste Entscheidung sein mag. Dynamik verheißt Veränderung. Und die widerspricht dem Gefühl, der Frage nach der Herkunft nie entkommen zu können – ein Gefühl, das alle KünstlerInnen aus der Unterschicht thematisieren.

Das größte Problem ist aber, dass die meisten Figuren nur Klischees sind. Mit Ausnahme von Evas Großmutter, die durch Widersprüche und Bilder aus Kindheit und Jugend Kontur als Person bekommt. An ihr lässt sich am eindrücklichsten ablesen, wie sich Machtverhältnisse ins Leben des Individuums, ja sogar in seinen Körper einschreiben.

Aber die Eltern: Spießer. Die Freunde: blind für Klassenfragen. Und schließlich Eva, die neben Neid und Unsicherheit keine anderen Gefühle zeigt. Und erst recht keine Empathie.

Das Titelbild von „Scheiblettenkind“.

© Suhrkamp

Hier erreicht die Graphic Novel das Gegenteil dessen, was sie eigentlich erreichen will: die Mechanismen von Klassismus sichtbar zu machen. Dass die auch dadurch funktionieren, dass Aufsteiger die gesellschaftliche Verachtung als Scham gegen sich selbst wenden, wird in „Scheiblettenkind“ nicht entlarvt.

Im Gegenteil. Im Epilog sehen wir, wie Eva widerwillig ihre Eltern besucht. Sie will nur eins, nämlich schnell wieder zurück in die Welt der Kunst, die ihr neues Zuhause geworden ist. Sie sieht selbst auf ihre Herkunft und ihre Familie herab.

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