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Journalismus ist eine schwierige Branche. Der Schriftsteller Anselm Neft. Er wurde 1973 in Bonn geboren.

© Maren Kaschner/Rowohlt

Anselm Nefts Roman "Späte Kinder": Bodenständig 2022 - und böse

Anselm Neft erzählt in seinem radikal realistischen Roman „Späte Kinder“ von einer dysfunktionalen Familie.

Auf dem Cover sind Wolkenberge zu sehen. Weil der Tod, um den die Geschichte in Anselm Nefts neuem Roman „Späte Kinder“ (Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2022. 288 Seiten, 22 €.) kreist, in religiöser und alltagssprachlicher Redeweise mit dem Himmel verbunden wird.

Doch Nefts Prosa und das, was sie verhandelt, ist zunächst eher bodenständig, man könnte auch sagen: radikal realistisch angelegt. Setting und Thema sind fest umrissen, die Charaktere sind weniger von geheimnisvollen Leerstellen geprägt, sondern vielmehr durch eine erstaunliche Überdeutlichkeit: Die Zwillinge Sophia und Thomas treffen sich im Bonner Elternhaus, haben den Nachlass der verstorbenen Mutter zu regeln.

Sie kramen in alten Kisten und lassen die eigene Kindheit Revue passieren, die von einem cholerischen Vater, einem „Kinderverdrescher“ geprägt war. An einer zentralen Stelle heißt es: „Der Vater, sagte seine Mutter manchmal, sei krank, aber das konnte Thomas damals weder akzeptieren noch wirklich begreifen. Für ihn war er nicht krank, sondern böse. Niemand macht seinen Kindern Angst, der nicht böse ist.“

Nur langsam erkennt Thomas die Genese dieser Bösartigkeit und die Gefahr, dass die Tragödien der Eltern und Großeltern auch die folgenden Generationen schwer belasten können. Der Vater fühlte sich in der NS-Zeit um seine Redlichkeit betrogen. Blutvergießen und Zerstörung führten wie in vielen Familien zu einer toxischen Mischung aus Verdrängung und Aggression.

Der Journalist hat finanzielle Probleme

Immerhin hat er eine Karriere als Chirurg hingelegt, das Ansehen als Arzt ist ihm nicht mehr zu nehmen. Er ist nicht mehr der Jüngste, als die Zwillinge zur Welt kommen, die als späte Kinder die zementierte Identität des Vater bedrohen.

Was wiederum nicht heißt, dass damit die Schläge entschuldigt sind. Tatsächlich können ähnliche Leidensgeschichten wie die von Geschwistern auch zu unterschiedlichen Lebensentwürfen führen: Sophia lebt als Hausfrau und Mutter in Harvestehude, einem vornehmen Viertel in Hamburg. Sie ist zwar nicht mehr glücklich mit Ehemann Marcel, weil „die Geschichte ihrer gemeinsamen Lust zu Ende erzählt ist“. Aber diese Entwicklung beunruhigt die Pragmatikerin Sophia nicht, denn „wie viele Paare haben nach siebzehn Jahren noch Sex?“

Thomas ist Journalist in Berlin, schreibt bemerkenswerte Reportagen, kann allerdings als Freelancer kaum noch vom Zeilengeld leben. Er hat nicht nur mit finanziellen Problemen zu kämpfen, als Mittvierziger stellt er gerade sein ganzes Leben auf den Prüfstand, sozusagen im Modus der Midlife-Crisis. Gerade hat er sich von seiner langjährigen Freundin Katrin getrennt und ist nun mit einer etwas schematisch skizzierten Feministin zusammen, wobei das Ende auch dieser Beziehung sich schon früh andeutet.

So unterschiedlich die Biografien, so verflochten bleiben die Gefühlslagen der Zwillinge. Noch als Erwachsene sind sie ihrer Kindheit verhaftet, spielen wie früher das berühmte Hausmärchen der Brüder Grimm nach, nämlich Brüderchen und Schwesterchen – und Thomas, der ganz besonders unter dem prügelnden Vater gelitten hat, darf das Reh sein.

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Es bleibt nicht nur bei diesem Spiel, die beiden schlüpfen auch in die Rollen der Eltern, erkunden aus wechselnden Perspektiven wiederum deren Gewalterfahrungen während des Zweiten Weltkriegs. Die rhetorischen Feldversuche haben zum Teil groteske Nachwirkungen: „In der Nacht träumt Thomas, dass er mit seiner Mutter verheiratet ist und ein Kind hat, von dem er bisher nichts wusste.“

In solchen Passagen zeigt Neft sein Gespür für Pointen, die in der melancholischen Grundstimmung des Textes auch nötig sind.

Die Vergangenheitsbewältigung wird umso dringlicher, da Sophia nicht länger warten kann, um sich mit Thomas über diese Zeit auszutauschen: Sie ist unheilbar an Krebs erkrankt und wird sich, nur kurze Zeit nach dem Tod der Mutter, auf ihr eigenes Sterben vorbereiten.

Kriegserinnerungen als Abenteuerfilm

Dieser Erzählstrang ist der stärkste in einem Roman, in dem nicht nur am Kapitelende oft (und man könnte meinen: einmal zu oft) geweint wird. Vor allem Thomas, der gerne abgebrüht wäre, hat ständig mit Tränen zu kämpfen, weil er allmählich begreift, dass er wie der Vater ein Problem mit mangelnder Impulskontrolle hat.

Die Schwester hingegen gewinnt im Angesicht des Todes an Selbstbewusstsein. Sie zieht sich in ein buddhistisches Hospiz zurück, und selbst wenn nicht alle Wünsche erfüllt werden können, weiß sie doch um ihren Erfolg, trotz aller Widrigkeiten eine gute Mutter gewesen zu sein.

Der letzte und selbstbestimmte Lebensweg der Schwester verändert schließlich auch den Bruder, der sich nur mühsam von gelernten Verhaltensmustern lösen kann. Ob die rhetorischen Rollenspiele dazu beigetragen haben, ist schwer zu beurteilen, gegen Ende des Romans bezweifelt Thomas jedenfalls das quasitherapeutische Verfahren: „Bei Sophia klingen die Kriegserinnerungen ihres Vaters, als handele es sich um einen Abenteuerfilm.“

Zwiespältiger Eindruck

Weil das Unbehagen berechtigt ist, ergibt sich auch für den Autor ein Erzählproblem. Insbesondere im Vergleich mit den intensiven Szenen, die von Sophies letzten Wochen handeln, verlieren die Ausflüge in die gespielte Vergangenheit zunehmend an inhaltlicher Relevanz.

Zudem transportiert Anselm Neft über die Bruderfigur zu viele Themen, sodass die ansonsten lakonische Prosa im Mittelteil ein wenig zerfranst. Mit Thomas geht es hinein in Facebook-Diskussionen; seine Gedanken drehen sich um Identitätspolitik und Genderfragen, und zu allen Debatten weiß die Erzählstimme viel Kluges und Richtiges mitzuteilen.

Für die Kerngeschichte, die vom Leben in dysfunktionalen Familien handelt, sind solche Gedanken eher unerheblich, selbst wenn mit dem Beruf, zu dem die Themenflut gehört, auch die Missverständnisse der Geschwister illustriert werden: „Journalismus ist eine schwierige Branche', sagt Sophia. Vermutlich meint sie es freundlich, aber es ärgert ihn.“ Der streckenweise zwiespältige Eindruck, den "Späte Kinder" vielleicht bewusst erzeugen will, wird aber durch einen souveränen Schluss kompensiert, der die Überlebenden an ihre Verantwortung für die Leidenden erinnert.

Carsten Otte

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