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Nicholas Gannon: Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt

© Coppenrath

Großes Leseabenteuer von Nicholas Gannon: Als Häuser noch Soldaten waren

Nicholas Gannons großartiges Debüt "Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt" macht Lust auf mehr

Die schönsten Reisen finden im Lehnsessel statt. Von Abenteuern in Büchern wie „Gullivers Reisen“, „Die Schatzinsel“, „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ oder „Alice im Wunderland“ bloß zu lesen, hat einen Vorteil: Sie sind gruselig, aber nicht gefährlich. Die Klassiker von Jonathan Swift, Robert Louis Stevenson und Jules Verne bekommt der Held von Nicholas Gannons Roman „Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt“ geschenkt, und er verschlingt sie innerhalb weniger Tage. Aber anders als von seiner Mutter erhofft, wirkt die belletristische Lektüre auf Archer Hemsley überhaupt nicht beruhigend. Im Gegenteil. Der elfjährige Tagträumer möchte nun wirklich etwas erleben, auch wenn er sich dafür in Gefahr begeben muss. Heraus aus dem amerikanischen Städtchen Rosewood will er, wo die Häuser „wie eine Reihe Zinnsoldaten nebeneinanderstanden“, und hinein in die Welt.

Dass sich der New Yorker Autor mit seinem Debüt selbstbewusst in eine Reihe mit einigen der größten Abenteuerromane stellt, mag anmaßend erscheinen. Eher ist es wohl als augenzwinkernde Huldigung zu verstehen. Der altmodische Duktus der Erzählung, die von Briefen, Aufzeichnungen und Zeitungsartikeln unterbrochen wird, wirkt beinahe viktorianisch, und das Setting des in einem idealtypischen Neuengland spielenden Romans lässt offen, in welcher Zeit: 1900, 1930, 1950? Es gibt Backsteinfabriken, Bahnen und Busse, aber sie sind mit hölzernen, plüschig gepolsterten Sitzbänken möbliert. Handys existieren noch nicht, und auf den Fassaden der Neubauten – zu sehen auf den wunderbaren Illustrationen, die von Gannon selbst stammen – wuchern die Ornamente.

Höchst wundersam an dieser Reise ist vor allem, dass sie sich immer wieder verzögert. Archer hat seine Großeltern, berühmte Naturforscher, niemals kennengelernt. Denn sie sind bei einer Expedition im Eismeer verschollen. Haben Pinguine sie gefressen? Fressen Pinguine überhaupt Menschen? Oder sind Oma und Opa auf einem Eisberg festgefroren? Ein zotteliger älterer Mann, der sich bei einem Hausfest einschleicht, schwärmt dem Jungen von der „faszinierenden Welt, die draußen wartet“ vor und konstatiert anerkennend: „Du bist ein Hemsley, das heißt schon was.“

Welterkunder statt Stubenhocker

Es heißt, dass Archer ein Welterkunder und kein Stubenhocker ist. Allerdings erlaubt seine Mutter ihm nur, das Haus zu verlassen, um zur Schule zu gehen. Also spricht Archer hauptsächlich mit dem Bären, dem Reh und den anderen Tieren, die in den Zimmern herumstehen. Sie sind ausgestopft, manchmal antworten sie trotzdem, der Dachs klagt meteorologisch: „Leider nehmen die Herbststürme kein Ende.“ Auf Seite 55 beschließt unser Held, aufzubrechen, um seine Großeltern zu retten. Allein wird er das nicht schaffen, deshalb akquiriert er Mitstreiter, den Nachbarjungen Oliver und das französische Mädchen Adélaide.

Sie ist wie geschaffen für Abenteuer aller Art, denn sie hat ein Holzbein. Angeblich, so wird erzählt, ist Adélaide aus einem Heißluftballon in den Nil gestürzt und von Krokodilen angegriffen worden. Auf Seite 227 beginnen die Reisevorbereitungen. Die Kinder lesen so viele Bücher über die Antarktis, wie sie in der Schulbibliothek finden, essen Eiswürfel und adoptieren einen Beagle namens Fritz. Auf Seite 280 erreichen sie die See. „Vor den dreien breitete sich das glitzernde Meer aus, und der Hafen kam ihnen vor wie ein riesiger Mund, der es austrinken wollte.“ Sie sind am Hafen, haben ihre Stadt noch nicht verlassen.

Nicholas Gannon ist ein Meister der Prokrastination, eines ewigen Aufschubs. Der Abenteuerplot kommt nur millimeterweise voran, umso schöner – und genauso fesselnd – sind dafür die Abschweifungen. Sonderliche Nebenfiguren fungieren als Ornamente der Erzählung, etwa die Lehrerin Mrs Murkley, die aus der Nähe einem Heißluftballon gleicht. „Doch Archer tippte, dass diese Frau niemals so anmutig vom Boden abheben würde.“ Diese „wundersame Reise“ ist ein großes Leseabenteuer. Christian Schröder

Nicholas Gannon: Die höchst wundersame Reise zum Ende der Welt. Deutsch von Harriet Fricke. Coppenrath Verlag, Münster 2016. 368 Seiten. 14,95 Euro. Ab zehn Jahren.

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