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Kultur: Alice im Technoland

Der Eingang ins Wunderland ist ein leerer Türrahmen. Es gibt keine Wand, keine Mauer, nur die Tür.

Der Eingang ins Wunderland ist ein leerer Türrahmen. Es gibt keine Wand, keine Mauer, nur die Tür. Vor dieser Tür hockt eine Vater-Mutter-Tochter-Familie im Wohnzimmergefängnis, hinter der Tür klafft ein großes weites Nichts. Aus dem Nichts kommt ein Mantelmann, der keinen Kopf, aber einen Regenschirm trägt. Er tritt durch die Tür, geht zu dem Mädchen und gibt ihr seinen Hut. Es blitzt und donnert, und ruckzuck werden die Eltern mitsamt ihren Sesseln an Schnüren ins Off gezogen. Die Bühne ist leer, das Spektakel beginnt. Der Mantelmann ist gekommen, um das Mädchen in eine Gegenwelt zu entführen, in der die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben sind und die Hydrauliken lautlos funktionieren. Alice im Technoland. Seiltänzer, Luftballeteusen, Tänzer, Jongleure, Clowns, Rhönradfahrer wird sie treffen. Bei Carroll nimmt das Weiße Kaninchen Alice durch die Schächte seines Baus mit ins Erdinnere. Hier, beim Cirque du Soleil, sind überall auf der Bühne Löcher eingelassen, durch die immer wieder die seltsamsten Figuren ans Licht emporgekrochen kommen. Ihre weißgepuderten Gesichter und krummen Hüte signalisieren: Hoppla, jetzt wird es aber lustig!"Quidam" heißt die Show, die der Cirque du Soleil mit über fünfzig Artisten bestückt hat. Sie stürmen über zwei Aufgänge neben der Orchester-Empore ins Zirkusrund, klettern aus den Löchern oder werden an Schienen vom Bühnenhimmel in die Szene hinabgesenkt. Manchmal sind sie alle gleichzeitig auf der Bühne, zu durcheinanderwuselnden Grüppchen oder großformatigen Genrebildern - Halbstarkentänze wie in der West Side Story, Seilspringen in Kostümen des 19. Jahrhunderts - arrangiert. Doch die wichtigsten Artisten arbeiten an diesem Abend nicht auf, sondern vor der Bühne. Ohne die Platzanweiser, die dunkelblaue Jacketts mit auffälligen Metallverschlüssen tragen und teilweise sogar über einen Walkie-Talkie-Anschluß im Ohr verfügen, wäre der Ablaufplan zum Scheitern verurteilt. Das Zelt mit den beiden Kuppeln faßt 2500 Zuschauer, es gibt acht Eingänge und ein kompliziertes System von Sektionen, Reihen und Plätzen. Die letzten Besucher, die in den Rängen umherirren, werden von einem Clown mit Irokesenfrisur und Fliege in Empfang genommen. Einen Mann gabelt er irgendwo unten in Sektion 203 auf, führt ihn an Eingang 1 vorbei in die Sektion 200, und von dort über die Bühne zu seinem Platz. Vorher wird er allerdings noch hinter die Bühne gezerrt und in einen OP-Kittel gesteckt. Dafür gibt es den ersten donnernden Applaus des Abends. Keine Frage: Das Publikum ist wildentschlossen, sich zu amüsieren.Quidam: Das kann jeder sein. Gemeint ist damit, so belehrt das Programmheft, "ein namenloser Passant, eine vorübereilende Person, ein Mensch, der verloren inmitten der Menschenmenge einer allzu anonymen Gesellschaft lebt." Das Maskottchen des Abends, der Mantelmann, hat keinen Kopf, und das darf als Botschaft verstanden werden: Bitte nicht mehr denken, ab jetzt nur noch staunen! Die Rahmenhandlung wird nur angedeutet, sanft gleiten die Bilder ineinander. Das Flüchtige ist ein Hauptkennzeichen des Programms, die Figuren erscheinen oft in feierlichen Schreite-Schritten auf der Bühne.Die Nummern firmieren unter hochtrabenden Titeln wie "Aerial Contortion in Silk", "Cloud Swing" oder "Skipping Ropes", doch dahinter verbergen sich noch immer die guten alten Zirkusdisziplinen zwischen Bodenakrobatik und Trapeztanz. Einige Auftritte sind tatsächlich atemberaubende Attraktionen: Die chinesischen Diabolo-Künstlerinnen, die ihre Spulen mit dünnen Schnüren in die Luft schleudern, Salti schlagen und sie wieder auffangen. Die Akrobaten, die sich zu Türmen, Wippen, Pyramiden formieren, bis zu vier Mann hoch. Die beiden lebenden Statuen, Mann und Frau, die für Augenblicke tatsächlich zu einem Körper zu verschmelzen scheinen. Doch zwischen den Höhepunkten herrscht immer wieder Leerlauf, manche Nummern bleiben lau - die Vorhang-Turnereien einer Schlangenfrau -, andere - zwei Clowns und eine Geige - floppen total. Was aber vor allem nervt, ist die Musik, ein synthetischer Klangbrei zwischen Oper und Klezmer, bei dem man erst nach einiger Zeit merkt, daß er von einem Orchester und nicht vom Tonband kommt.Angefangen hat der Cirque du Soleil in den achtziger Jahren als Alternativbetrieb in Kanada. Inzwischen hat er sich zu einem Entertainment-Multi ausgewachsen, der von Montreal aus acht Truppen um die Welt schickt. Er bietet perfektes, technisch ausgefeiltes Spektakel, doch das Sinnlichste hat er seinen Shows längst ausgetrieben: den Zirkusgeruch von Pferdeäpfeln und Sägespänen.

Zelt an der Deutschlandhalle, bis 11. Juli, Di-Do, 20, Fr. 20.30, Sa u. So 16 u. 20 Uhr

CHRISTIAN SCHRÖDER

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