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Der Platz für Buchliebhaber in Bagdad: Die historische „Mutanabbi“-Straße. Die traumatischen Erlebnisse von Krieg und die Enttäuschung über die Politik werden derzeit in Literatur verarbeitet.

© picture alliance / AA/Murtadha Al Sudani

Poesie statt Protest: Warum die Jugend des Irak mit der politischen Elite bricht

Mit Massendemos haben sie die Regierung gestürzt. Vier Jahre später wenden sich viele junge Iraker aber frustriert von der Politik ab. Ihre Zukunft sehen sie ganz woanders.

Alaa Gaber Alyaseri ist vor vier Jahren auf die Straße gegangen, zusammen mit tausenden anderen. Die meisten von ihnen waren junge Irakerinnen und Iraker. Sie forderten ein neues politisches System, mit Mehrheitsregierung gemäß den Wählerstimmen und einer echten Opposition. Heute sitzt die 42-Jährige Alyaseri im irakischen Parlament. Doch von ihren Träumen ist nicht viel geblieben.

Über ein Jahr lang hatten ab 2019 im ganzen Land Menschen demonstriert und eine Zeltstadt am Tahrir-Platz im Herzen von Bagdad errichtet. Mit den Massendemos stürzten sie schließlich Regierung und erreichten vorgezogene Neuwahlen. Die Aufbruchstimmung war ansteckend. Es roch nach Revolution.

Doch der Aufstand wurde niedergeschlagen. Erst kamen die Scharfschützen, die Milizen, der Geheimdienst und später die Pandemie. Über 600 Demonstranten sind getötet worden, viele wurden verfolgt und bedroht, einige verschwanden für immer. Die Bewegung erstickte.

13 Abgeordnete der Protestbewegung im Parlament

Nun sitzt die tatkräftige Alaa Gaber Alyaseri zwar seit Oktober 2021 im Parlament und mit ihr 13 weitere Vertreter der Protestbewegung, die man Teshreenies nennt, Oktoberrevolutionäre. Eine schlagkräftige Opposition ist das aber nicht, bei insgesamt 329 Abgeordneten.

600
Tote gab es bei der Niederschlagung der Aufstände in Bagdad zwischen 2019 und 2020.

Und der, der das Rad hätte weiterdrehen können, hat sich aus der Politik verabschiedet. Frustriert durch den unerbittlichen Machtkampf zwischen Reformern und Bewahrern, warf der Schiitenführer Moktada Al Sadr hin, zog zunächst seine Abgeordneten aus dem Parlament ab und schließlich sich selbst aus der Politik zurück. „Damit hat er unsere Ziele aufgegeben“, sagt Alyaseri. 

Der als jähzornig geltende Rebell hat sich zur schillernden Figur im Politbetrieb der Post-Saddam-Ära entwickelt und unzählige Wandlungen vollzogen. Zuletzt setzte sich Al Sadr an die Spitze der Protestbewegung, übernahm deren Forderungen und gewann die Wahlen.

Anhänger des schiitischen Geistlichen Moktada al-Sadr feierten am 11. OKtober 2021 dessen Wahlsieg. Er hatte sich zuletzt zum Sprachrohr der Protestbeweung gemacht.

© AFP/AHMAD AL-RUBAYE

Doch es reichte nicht, um eine Regierung zu bilden. Eine Koalition kam nicht zustande. Vor allem die Forderung nach Minimierung des iranischen Einflusses im Irak, erwies sich als nicht durchsetzbar. Die Iran hörigen Schiitenmilizen und deren politische Parteien taten alles, um die Reform scheitern zu lassen.

Es folgte ein erbitterter Machtkampf im Vielvölkerstaat. Beobachter befürchteten einen Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionen, wie es ihn schon einmal zwischen 2006 und 2007 gab.

„Unser Parlament ist ein sunnitisches, kurdisches und schiitisches Haus“, sagt die Abgeordnete Alaa Gaber Alyaseri. Das bringe viele Probleme mit sich: Nicht das Land stehe im Mittelpunkt, sondern die Klientel, die die Parlamentarier bedienen müssten.

Die Abgeordnete Alaa Gaber Alyaseri, die aus der Protestbewegung gegen das politische System kommt. Ihr Lager hat 13 von 329 Abgeordneten.

© Birgit Svensson

Schuld daran ist das Proporzsystem, das die Amerikaner nach ihrem Einmarsch 2003 einführten. Seitdem ist der Präsident ein Kurde, der Parlamentspräsident Sunnit, der Premier ein Schiit. Eine Opposition gibt es nicht. Das führt es zu Korruption und Vetternwirtschaft – und vor allem zu Streit.

Alte Bekannte kommen zurück

Der neue schiitische Premier Mohammed Shia Al Sudani ist seit Oktober 2022 im Amt. Bereits zwei Mal war er Minister. Er ist ein religiöser Hardliner und steht unter Korruptionsverdacht. Der kurdische Präsident, Abdul Latif Raschid, gilt als dem Iran verbunden. Einzig der sunnitische Parlamentspräsident, Mohammed Al Halbusi, genießt etwas Ansehen.  

Junge Leute wenden sich von der Politik enttäuscht der Kultur zu. Hier eine junge Musikerin des Nationalorchesters für traditionelle Musik beim Konzert Ende Januar in Bagdad.

© AHMAD AL-RUBAYE/AFP

Um nicht völlig in Frust und Resignation zu verfallen, bleibt vielen jungen Irakerinnen und Iraker nur die Flucht in die Kultur. Ob Literatur, Musik, Bildende Kunst, oder Film: Experimente jeglicher Art finden massenhaft Besucher und Anhänger. Mit Politik möchten die meisten nichts mehr zu tun haben, vorerst jedenfalls.

Ich bin Iraker, ich lese.

Titel des Buchfestivals, das zum neunten Mal standfand

Vielmehr wird das Erlebte verarbeitet, in der Literatur finden die Traumata der Vergangenheit finden eine Form auf Papier.

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Das Buchfestivals „Ich bin Iraker, ich lese“, fand dieses Jahr zum neunten Mal statt – mit mehr Publikum als je zuvor. Die meisten Besucherinnen und Besucher waren junge Menschen, unter 25 Jahren, die mittlerweile 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Fünf Jahre nach dem Ende des „Islamischen Staats“ erfährt die Tradition des Lesens im Irak ein Comeback. Zuvor waren die Menschen im Land zu sehr mit Krieg und Terror beschäftigt.

„Es gibt einen regelrechten Kulturboom derzeit in Bagdad“, sagt die Kulturmanagerin Hella Mewis. Die 51 Jahre alte Berlinerin ist Initiatorin des seit 2017 bestehenden Beit Tarkib, einem Zentrum für zeitgenössische Kunst, einzigartig im Irak. Das Haus hat sich vor allem der Förderung junger Künstlern verpflichtet.

Die „Parlamentarierin von der Straße“, Alaa Gaber Alyaseri, wird zwar weiter im Parlament arbeiten. Aber sie ist desillusioniert. Auch auch sie hat sich bereits in die Kultur geflüchtet. Ihre auffälligen Fingernägel mit Ornamenten und kleinen sumerischen Schriftzeichen sind wie wunderbare, kleine Kunstwerke.

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