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44 Kinder sollen in Ludwigshafen die erste Klasse wiederholen, weil ihr Deutsch zu schlecht ist. Ein Extremfall, doch auch in Berlin fehlen vielen Kindern grundlegende Fähigkeiten für die Schule.

© Getty Images/MANICO

Schule in Rheinland-Pfalz sorgt für Schlagzeilen: Wenn 44 Erstklässler nicht versetzt werden

Dutzende Kinder sollen in Ludwigshafen die erste Klasse wiederholen. Ein Extremfall, doch auch in Berlin fehlen vielen Kindern grundlegende Fähigkeiten für die Schule.

Es ist ein Fall, der Schlagzeilen macht: Im rheinland-pfälzischen Ludwigshafen sollen 44 Erstklässlerinnen und Erstklässler von insgesamt 126 der Gräfenau-Grundschule das Schuljahr wiederholen, weil sie nicht ausreichend gut Deutsch sprechen.

Eine Meldung, die Deutschland, das sein Verhältnis zu Migration noch nicht geklärt hat, weiter verunsichert.

„44 Sitzenbleiber an der Gräfenau-Schule Ludwigshafen“, meldete der Südwestrundfunk (SWR).

„Erneut schaffen Dutzende Kinder die erste Klasse nicht“, berichtete Spiegel Online.

„An dieser Schule bleiben 44 Erstklässler sitzen. Weil sie nicht richtig Deutsch können“, behauptete Bild.

Doch so ganz stimmen die aufgeregten Meldungen nicht.

Denn zum einen gibt es an Grundschulen schon seit langer Zeit kein „Sitzenbleiben“ mehr. Wenn Schulkindern die grundlegenden Fähigkeiten für den Besuch der nächsten Klasse nach Einschätzung ihrer Lehrerinnen und Lehrer fehlen, wird den Eltern geraten, ihre Kinder die Klasse nochmals besuchen zu lassen.

Und zum anderen: Es scheitert bei diesen Kindern nicht allein an der Sprache.

Es fehlt bei den Fähigkeiten an: allem

Vielen der Kinder, erzählt Barbara Mächtle, die Schulleiterin der Gräfenau-Grundschule, fehlen auch andere Fähigkeiten, vor allem, weil sie keinen Kindergarten besucht haben. Der Umgang mit Papier und Stift. Das Verhalten in der Gruppe. Stillsitzen. Im Grunde fehlt: alles.

Und es ist nicht das erste Mal, dass derart viele Kinder an der Gräfenau-Grundschule nicht bereit für die zweite Klasse sind. Schon im vergangenen Jahr war 39 Schülerinnen und Schüler geraten worden, nochmal von vorne anzufangen.

Damals hatte der SWR ein betroffenes Mädchen begleitet: Die Eltern aus Bulgarien, aus der dortigen türkischsprachigen Minderheit, behinderte Geschwister, die Mutter hat nie eine Schule besucht, die Familie hat weder Stifte noch Papier noch Bücher zu Hause. Ein Panoptikum der Chancenlosigkeit. Auch die besten Lehrerinnen und Lehrer können das mit den Mitteln, die Schulen in Deutschland heute zur Verfügung stehen, kaum ausgleichen.

44 Erstklässler der Gräfenauschule in in Ludwigshafen müssen die 1. Klasse wiederholen. Das entspricht über einem Drittel der Schülerinnen und Schüler.

© IMAGO/U. J. Alexander/imago

Die Gräfenau-Grundschule befindet sich in Hemshof, in der nördlichen Innenstadt von Ludwigshafen. Knapp 800 Meter sind es von hier bis zum Rhein.

Verglichen mit dem Zentrum von Ludwigshafen wirkte jeder Pissbahnhof in Vorpommern wie ein blühender Zukunftsort.

Alexander Osang, Reporter

„Verglichen mit dem Zentrum von Ludwigshafen wirkte jeder Pissbahnhof in Vorpommern, jede Autobahntankstelle in Sachsen-Anhalt wie ein blühender Zukunftsort“, hatte der Spiegel-Reporter Alexander Osang einmal geschrieben. Schon der Philosoph Ernst Bloch bezeichnete seine Geburtsstadt 1928 als „hässlichste Stadt Deutschlands.“ Einen hohen Anteil an zugewanderten Menschen gibt es heute außerdem.

Damit liegt die Schule, wenn man so will, im Problembezirk eines Problembezirks.

Das Problem ist nicht neu

Als vor einem Jahr 39 Schülerinnen und Schüler die erste Klasse wiederholten, hatten zum Beginn des aktuellen Schuljahrs Lehramtsstudierende der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (PRTU) sechs Wochen lang die Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht unterstützt und die Kinder in kleinen Gruppen gefördert.

Doch mit den Herbstferien endete das Projekt. Direktorin Mächtle hatte schon damals angemerkt, dass dessen Erfolg erst am Ende des Schuljahres bewertet werden könne. Das Ergebnis ist ernüchternd. Die Zahl der Kinder, denen zur Wiederholung der Klasse geraten wird, hat sich sogar noch erhöht.

Schulleiterin Barbara Mächtle. Vielen Kindern, sagt sie, fehle es nicht nur an Sprach-kenntnissen.

© picture alliance/dpa/Uwe Anspach

Allein: Dass Kinder die Sprachfähigkeiten, die sie für die Schule benötigen, nicht mitbringen, ist natürlich kein Ludwigshafener Problem.

In Berlin ist das Modell flexibler

Auch in Berlin ist in vielen Bezirken der Anteil der Kinder, deren Sprachkompetenzen für den Schulbesuch nicht optimal sind, hoch. Wie hoch, kann man bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie spontan nicht sagen.

Berlin hat allerdings schon seit 2009 die sogenannte Schulanfangsphase (SAPH) eingeführt, die die ersten zwei oder drei Schuljahre umfassen kann. Die Idee: Die Kinder sollen in der Schule erst einmal ankommen, ohne sofort bewertet oder gar abgewertet zu werden. Das macht die Schulen flexibler.

Was deutschlandweit zu tun wäre, um Kindern mit fehlenden Fähigkeiten wirklich zu helfen, ist kein Geheimnis.

In einem Papier mit dem Titel „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule“, zählen über 15 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) 20 Empfehlungen auf, was politisch und gesellschaftlich getan werden könnte. Und müsste.

Im Kern, steht da, müssten „speziell Familien mit niedrigem Bildungsstand, Familien mit geringem sozioökonomischem Status und Familien, die eine andere Familiensprache als Deutsch sprechen“ dazu gebracht werden, Unterstützungsangebote und Kindertagesbetreuung“ in Anspruch zu nehmen.

Gleich Empfehlung zwei lautet ganz konkret: „Stärkere Verbindlichkeit, alltagsintegrierte Bildungsangebote zur Förderung sprachlicher (…) Kompetenzen“. Auf gut Deutsch: Mehr Lehrerinnen und Lehrer – und mehr Zeit für das einzelne Kind.

Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Textes waren Fehler. Wir haben diese korrigiert.

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