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Berlin: Unterm Funkturm sind die Nächte lang

Wenn die Besucher gehen, feiern die Bayern und die Reiter, die Russen und die Hessen. Und in den Pferdeboxen lieben sich die Paare

Von Deike Diening und

Christine-Felice Röhrs

Zehn vor sechs. Noch essen die Leute, trinken und drängeln. Sechs Uhr ist der Scheitelpunkt, gleich beginnt der Exodus. Die Besucher verlassen die Messehallen. Und was geschieht dann, auf der dunklen Seite der Grünen Woche? Zwei bleiben.

Zehn nach sechs. Die Leute von der „Berliner Tafel“ fallen als Geschwader ein. „Wir müssen uns beeilen“, rufen sie im Laufschritt über ihren Rollwagen. Denn innerhalb kürzester Zeit haben die Standbesitzer die Pfannen geschrubbt und die Essensreste in Tüten und Eimer geschaufelt. Schnell zugreifen, sonst landet’s im Müll und nicht bei den Bedürftigen. Die Besucher tröpfeln aus der Halle. Nur die Polizisten beeilen sich nicht. Sie schlendern im Fünfertrupp herum, denn die 4.2, die Bierhalle, ist der Helmholtzplatz der Grünen Woche: Brennpunkt, wenn es dem Ende zugeht. Biertrinker mögen’s nicht immer, von der Quelle gestoßen zu werden. Die Nacht ist doch noch lang, sagen sie.

In der 3.2 lassen sie die Nacht schon hinein. Auf dem Erlebnis-Bauernhof wird es kühl. Die Knechte reißen die Türen auf. Zu warm hier für die Tiere. Sandra Voss beginnt den Nachtdienst. Die schmale Blonde ist Tierärztin. Sie dreht ihre Runden und guckt nach den Kühen, den Schweinen, den Kälbchen und Küken. Käuen die Kühe? Sind die Kälbchen gesellig? Bei den Puten hat einer mal den Wärmeregler hochgedreht, das fand er wohl lustig. Heute steht ein Schweinchen apathisch im Pferch. „Nachher wird es abgeholt“, sagt die Tierärztin. Helfer misten aus und schichten Futter.

Nochmal die Bierhalle, es ist fast acht. Graues Licht, Müllsäcke am Gang, mit Plastik verhängte Stände, kälter wird’s ohne all die Leute. Still ist es. Oder? Musik von irgendwoher. Eine Gitarre sucht ihre Melodie. Eine Frauenstimme sucht die Gitarre. Männerstimmen suchen die Frauenstimme. „Bei meiner Sennerin…“ singt es zart wie ein Gutenachtlied hinter einer Standwand hervor. Sie sitzen beim Maisach Weißbier, zwanzig Gestalten in Trachten. Die Vevi aus Bad Kohlgrub singt vom Kaiser, der sei Landl liabt. War anstrengend, der Tag. Soll ausklingen.

Wollt ihr a Helles odr an Weißbier? Dunkles hätt ma auch . Und ein Heuschnapserl hinterher, das schmeckt wie gezuckert Gras. Gespräche über Strümpfe. Simon Simmerl, der Sonnyboy mit dem tief in den Nacken geschobenen Hut, trägt welche, die aussehen, als hätte er sich einen Topflappen an die Wade geklebt. Jetzt kommt auch Benno, der Sohn vom Brauereichef und singt schweinische Lieder. Um 20 Uhr geht die Standbeleuchtung aus. Die Bayern stört das Zwielicht nicht. Der rasende Rhythmus des Tages lässt nach.

Eine Halle weiter, in der 25, es ist halb zehn, sitzt eine Wachfrau mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe vor Pferdeboxen an einem Tisch. In den leeren Boxen, sagt sie, lieben sich manchmal welche. Die muss sie dann stören, obwohl’s ihr Leid tut. Die Zwei auf der Bank ihr gegenüber rücken sich auch schon ganz nah. Sie von einer Molkereigenossenschaft, hübsch und dunkel, er aus dem Oderbruch, mit zwei Hengsten auf der Messe, ein echter Kerl, und dann ist da noch die Freundin der Melkerin, eine Winzerin, die zischt: Und, ist er nett?

Die Wachfrau – „Wachinspektorin, darauf bestehe ich!“ – heißt Sylvia Wroblewski. Sie regiert diese Halle, „es ist meine“, sagt sie. Die Aussteller kennt sie schon seit Jahren. Ist das Fleckvieh weg, kommt die Hometec, dann bewacht sie Haushaltsgeräte. Bei der Bautec seien es Ziegel, sagt sie gerade, da klopfen in schweren Reitstiefeln die Chefs der Ostsee-Quadrille vorbei. Die sind lärmend auf dem Weg zum Empfang in der Brandenburg-Halle und nehmen alle mit, denen sie begegnen. Die Ostsee-Quadrille ist die größte Show-Reiterstaffel auf Friesenpferden in ganz Europa, sagen sie. Die Winzerin steht neugierig vom Tischchen vor den Pferdeboxen auf, kommt näher: „Sie kenn’ ich doch, Sie haben doch bei mir den Barrique gekauft.“ Große Wiedersehensfreude. Auf zur Fete.

Von Halle zu Halle zu kommen, war anfangs leicht. Ab 22 Uhr aber sind die Verbindungstüren dicht. Man spricht den einen Wachmann an, der funkt den nächsten Wachmann an, der kommt durch seine Halle gelaufen und macht von innen auf: Staffellauf mit Schlüsseln, durch dunkle Flure, die nach Aprikosenputzmittel riechen. Vorbei an russischen Delegationen, die an Mähdrescherständen feiern, an Hessen, die angesäuselt Wettbewerbe im Wolfsheulen veranstalten, an Buden, auf deren Tresen einsam die Glasreiniger stehen geblieben sind.

Hier im Nachtkosmos ticken die Uhren anders, hier sagen sich die Wachmänner auch vor Mitternacht schon „Guten Morgen“. Sie arbeiten gemächlich, die Hände auf dem Rücken, Schrittchen für Schrittchen, haben ja schon ein Arbeitsleben gehabt, müssen ja nicht mehr, machen’s nur so, der Geselligkeit wegen. In der ersten Nacht gab es einen Überfallversuch, gleichzeitig an mehreren Türen. Das hat die alten Herren aber auf Trab gebracht, kichert einer, der nicht viel jünger ist und erschrickt dann, denn „Heeey!“, großes Hallo, da stolpern die Maisachbier-Bayern aus einer Tür. Der Simmerl-Sonnyboy hat irgendwo zwei Gladiolen geklaut, „mir wolln zum Ball“, nuschelt er, „kommts ihr mit?“ Sie stolpern weiter. „Bis nachher.“

Nachher ist der Landjugendball im ICC, im dämmrig beleuchteten Saal. Hier tobt’s, hier ist nichts peinlich, hier hat man einen im Tee. So weit der Kopf sich drehen kann, hüpfen und hoppeln die Paare – Tanzpaare: selbst auf Discohits zu zweit. Die Steber Johanna aus der Oberpfalz, der Koch Markus aus Oberfranken, der Hey Henner irgendwo aus der norddeutschen Tiefebene, alle da. Lange Blicke, ungenierte Ansprache. Ist dies nun wirklich der Heiratsmarkt, als der er immer beschrieben wird? Nö, sagt einer: „Nachher sprech’ i eine an, und die sagt dann, ,i bin aus NRW’. Und was soll i dann mit der?“

Aus Holland sind die Gärtner, die in der 19 jetzt noch in den Beeten stehen: Jaap, Nemo, Hans und Tom. In lilienschwerer Stille arbeiten sie, harken und wechseln Töpfe und Blumenzwiebeln. Sie warten auf den Tulpentruck. Der kommt um eins.

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